© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Auf den Weg machen
Kaputte Aussteiger: Über das Reisemotiv in der zeitgenössischen deutschen Romanliteratur
Dirk Glaser

Die Reise eines oder mehrerer Helden gehört seit Homers Odyssee und dem biblischen Auszug der Juden aus Ägypten zu den zentralen Motiven der Literatur aller Epochen und Kulturen. Allein das Thema Liebe ist daher weltliterarisch eines Ranges mit dem des Unterwegsseins. Zum Beweis genügt eine rasche Musterung einiger berühmter Titel, beginnend mit den höfischen Epen  des Mittelalters (Parzival), sich fortsetzend mit Cervantes’ „Don Quichote de la Mancha (1605), Grimmelshausens „Abenteuerlicher Simplicissimus Teutsch“ (1668), Defoes „Robinson Crusoe“ (1719), Swifts „Gullivers Reisen“ (1726), Poes „Gordon Pym“ (1838), Melvilles „Moby Dick“ (1851), Stevensons „Schatzinsel“ und Conrads „Herz der Finsternis“ (1899).

Bis in die Gegenwart fasziniert der Reisestoff, man denke nur an Bestseller der 1980er wie Sten Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“ (1983) oder Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“ (1988). Und aufgrund des sowohl organisierte Massenwanderungen aus Afrika und Vorderasien Richtung Europa auslösenden wie auch zur „fortwährenden Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ (Karl Marx) des alten Kontinents führenden globalisierten Turbokapitalismus ist für das 21. Jahrhundert mit einem Nachfrageeinbruch in diesem Genre schwerlich zu rechnen.

Erforschung oder Inbesitznahme exotischer Regionen

Diese wenig riskante Prognose stützt Norbert Bergers exemplarische Untersuchung von vierzehn zwischen 2004 und 2019 veröffentlichten Romanen eindrucksvoll ab (Wirkendes Wort, 2/2021). Berger teilt seine „repräsentativen Reiseromane“ der jüngsten deutschen Literaturgeschichte in drei Typen ein, von denen hier zwei interessant sind.

Da gibt es einerseits jene Texte, deren Fabel aus historischen Ereignissen und biographischen Fakten schöpft, um von der Erforschung oder Inbesitznahme exotischer Regionen im Kolonialzeitalter zu erzählen. Dafür wählt Berger aus: Daniel Kehlmanns in Millionenauflage verbreiteten Humboldt-Roman „Die Vermessung der Welt“ (2005), Thomas Stangls „Der einzige Ort“ (2004), der die unabhängig voneinander gestarteten Expeditionen des Briten Alexander Gordon und des Franzosen René Caillié schildert, die als erste Europäer ins sagenumwobene Timbuktu (Mali) vorstießen, Ilja Trojanows „Weltensammler“ (2006), der auf Reiseberichten Richard Burtons basiert, jenes britischen Kolonialbeamten der sich als Moslem verkleidet nach Mekka wagte, sowie Franzobels „Das Floß der Medusa“ (2017), das den Schiffbruch einer französischen Fregatte vor der Westküste Afrikas zur Vorlage hat.

Den Protagonisten dieses halbdokumentarischen Romantyps ist gemeinsam, daß sie die Hindernisse, Probleme, Gefahren ihrer Reisen innerlich kaum berühren. Anders als im klassischen Bildungsroman à la „Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre“ bleibt ihr Ausgriff in die Welt nahezu ohne Einfluß auf ihre Charakterformung. So irritiert in Kehlmanns, freilich abstoßend klischeehafter Darstellung nichts den monomanischen Forscherdrang Alexander von Humboldts. Genausowenig durchlaufen die ähnlich disponierten Entdecker Gordon, Caillié und Burton als Romanhelden einen Bildungsprozeß, gar nicht zu reden von Franzobels Schiffbrüchigen, die sich allenfalls zurückentwickeln, und zwar ins Tierische, wenn sie im mörderischen Überlebenskampf zum Kannibalismus übergehen. 

Was außer Karl-May-Spannung, so fragt Berger, wollen die Produzenten dieses Abenteuer-Romantyps dem Leser denn sonst vermitteln? Bei Franzobel ist es offenkundig die Botschaft vom hauchdünnen Firnis der Kultur. Was den unfreiwillig Floß-Reisenden zustößt, von denen 90 Prozent den Tod finden, läßt der Autor seinen Schiffsarzt darum als Parabel der Menschheitsgeschichte formulieren. „Einen schrecklichen Gedanken lang ahnte Savigny, daß die zivilisierte Welt und die Floßwelt dieselbe waren, es so oder so kein Entrinnen gab.“

Wesentlich optimistischer klingt da schon „die Moral von der Geschicht“ bei Kehlmann, Stangl und Trojanow. Retrospektiv die „Probleme der aktuellen Krise der Globalisierung“ verarbeitend, verhandeln sie den schwierigen „Umgang mit kulturellen Unterschieden“. Die zwar keiner ihrer „weißen“ Helden überwindet. Im Gegenteil: Die beharren auf der Überlegenheit ihres Europäertums und sprechen wie Stangls Caillié durchweg verächtlich von „Mauren“ und „Negern“ oder kümmern sich wie Humboldt, der Leichen aus einer Grabeshöhle stiehlt, einen Dreck um kulturelle Souveränität der Indigenen. Trotzdem schließen diese Autoren nicht aus, daß der „Kontakt mit den Kulturen fremder Welten“, den die von ihnen kreierten Helden meiden, heute weitaus besser gelingen könnte. Dieser Ur-Hoffnung der „Progressiven“ entzieht allein Franzobel den Boden, unter Berufung auf die „wahre Natur“ des Menschen, die endgültig triumphieren dürfte, wenn der nackte Überlebenskampf in planetarischer Dimension ausbräche.  

In Bergers zweitem Romantypus fehlen solche kulturphilosophischen Einschlüsse. Dessen Autoren genügt es, Wege für „kleine Fluchten aus der Realität“ aufzuzeigen. In Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ (2010) sind es zwei frustrierte Jugendliche, die einem öden Alltag mit Hilfe eines gestohlenen Lada Richtung Walachei entkommen wollen. Sehr jung ist auch Mercedes Lauensteins 15jährige Titelheldin „Blanca“ (2018), die ihrer chaotischen Mutter den Rücken kehrt, um am Rande der Toskana ein nebulöses Glück zu suchen. In Edgar Rais „Nächsten Sommer“ (2010) bringt ein VW-Bus „fünf Freunde“ nach Südfrankreich, wo sie ebenso wie der Buchhalter Thomas, die Hauptfigur in Peter Stamms „Weit über das Land“ (2016), eine Auszeit von der „Leistungs- und Konsumgesellschaft“ nehmen.

Das aus der Bahn geworfene Personal reist zu sich selbst

Michael Kumpfmüller schickt in seiner Road-Novel „Tage mit Ora“ (2019) zwei kaputte Alt-68er, beide geschieden, von Psychopharmaka abhängig, auf eine Tour entlang der US-Westküste, während Bodo Kirchhoffs in „Widerfahrnis“ (2016) für zwei Vorruheständler Italien als näher liegendes Sehnsuchtsland wählt. Und schließlich reihte Berger hier Thomas Glavinics Endzeitroman „Die Arbeit der Nacht“ (2006) ein, dessen Held Jonas eines Morgens aufwacht, um festzustellen, daß er allein auf der Welt ist, und der sich auf eine daher sinnlose Suche nach seiner Geliebten begibt, die er in England zu finden hofft.

Im Unterschied zum gezielt reisenden, nur auf seine Außenwelt fixierten Entdecker-Helden unternimmt das spontan und planlos schweifende, seelisch aus der Bahn geworfene Personal des zweiten Romantyps Reisen auf dem Weg zu sich selbst. Und mit Ausnahme von Jonas, den Glavinic aus England zurückkehren läßt, damit er sich aus Verzweiflung über ein Dasein in der alptraumhaften Menschenleere vom Wiener Stephansdom stürzt, gehen alle Figuren aus ihren Reiserlebnissen als glücklich gefestigte Persönlichkeiten hervor. Mithin, so lautet Bergers überraschendes Fazit, setze ausgerechnet der vor Aussteigern wimmelnde moderne Reiseroman die Tradition des deutschen Bildungsromans zwischen Goethe und Keller fort, „dessen wesentliches Merkmal in der Reifung des Helden zu sehen ist“. 


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