© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Im digitalen Orbit entfremdet
Die Verbindung zwischen Kapital und Arbeit erodiert, unser Verständnis der Realität verändert sich radikal. Am Horizont lauert die Unfreiheit
Björn Harms

Stellen Sie sich einmal die folgende Situation vor: Sie leben in einer größeren Stadt. Wenn Sie in dieser Stadt Ihre Wohnung oder Ihr Haus verlassen, betreten Sie eine Umgebung, in der beinahe alle Gebäude, die Sie um sich herum sehen, nur einer Person gehören. Alle Waren, mit denen Sie handeln, werden von einer Person kontrolliert. Wer handeln darf und wem man die Partizipation am Handel verwehrt, wird von einer Person entschieden. Und noch gravierender: Was Ihre Augen überhaupt sehen dürfen, wird ebenfalls von nur einer Person entschieden. Wenn diese nicht will, daß Sie eine bestimmte Sache erfahren, werden Sie niemals davon Kenntnis erlangen. Eine Vorstellung, die wohl kaum jemandem behagen würde. Doch sind wir tatsächlich so weit von dieser feudalen Dystopie entfernt?

Seit der Finanzkrise 2009 gleicht der Kapitalismus einem todkranken Patienten. Er leidet, schleppt sich über die Runden, doch durch konstante Geldspritzen schaffen es die Zentralbanken der Welt ihn weiterhin am Leben zu halten, wenngleich in mutierter Form. Wie es bei Medikamentenabhängigen eben so ist, hat sich auch der Kapitalismus an die Injektionen gewöhnt. Das heutige Geldsystem ist zwölf Jahre nach der schweren Finanzkrise geradezu süchtig nach dem frischen Geld. Die Auswirkungen sind allerorts spürbar. Das System hat sich längst selbst transformiert. „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“, bemerkte der Kulturwissenschaftler Mark Fisher schon 2009 und beschrieb damit eine Anpassungsfähigkeit des „kapitalistischen Realismus“, die bis heute Gültigkeit hat. 

Tech-Giganten wie Facebook oder Google haben das Sagen

Dennoch hat sich etwas Grundlegendes verändert. Zwei Dinge haben einen funktionierenden Kapitalismus immer ausgemacht: zum einen freie Märkte, die den Austausch von Waren und Arbeit garantieren; zum anderen aber auch Profite, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Denn schließlich bilden private Gewinne den Motor der gesamten Maschinerie. Heute aber erleben wir, daß Profite durch frisches Zentralbankgeld ersetzt wurden. Nicht mehr ausschließlich im Gewinn, sondern im zusätzlich geschaffenen Geld liegt seit 2009 der neue Treibstoff des Wirtschaftssystems. Unzählige Unternehmen sind heute Milliarden wert, fahren aber keine Profite ein. Viele von ihnen werden schon in wenigen Jahren verschwunden sein. Was stattdessen passiert, erklärt Griechenlands ehemaliger Finanzminister Yanis Varoufakis so: „Überall im Westen drucken die Notenbanken Geld, das die Financiers dann an die Kapitalgesellschaften verleihen, die es anschließend nutzen, um eigene Aktien zurückzukaufen.“ Aktienkurse hätten sich längst von den Gewinnen abgekoppelt.

Die freien Märkte wiederum sind einer digitalen Plattformökonomie gewichen, in der Tech-Giganten wie Amazon, Facebook, Microsoft oder Google das Sagen haben. In dem Moment, in dem Sie diese Plattformen betreten, um etwa Werbung für Ihre Firma zu schalten oder sich in virtuellen Räumen wie Whatsapp mit Freunden zu unterhalten, stehen Sie außerhalb der ursprünglich vertrauten marktwirtschaftlichen Umgebung. Denn nur einige wenige Personen besitzen das gesamte digitale Universum, in dem Sie sich bewegen. Und die Technologie-Unternehmen weiten ihre Dominanz aus. Die eingangs angesprochene Dystopie lauert im Digitalen.

Nichts bringt die futuristischen Träumereien der Tech-Branche so gut auf den Punkt wie das über eine Stunde lange Werbevideo für das „Metaversum“, das neue Zukunftsprojekt von Meta(Facebook)-Chef Mark Zuckerberg. Es enthält im Grunde die Implikation, sein reales Leben endgültig in ein digitales Dasein umzutauschen. Im Metaversum, das als „das neue Internet“ angepriesen wird, kann ich mittels „Virtual Reality“ von zu Hause aus alles erledigen: Per Hologramm Freunde treffen, Businessgespräche abhalten oder auch Essensbestellungen aufgeben. Ich kann alles sein, was ich möchte. Ich kann spielen, singen und lachen, aber auch leiden und traurig sein. In mir wächst die Vorstellung, einen unbegrenzten Markt zu betreten, auf dem mir alles offensteht, doch tatsächlich bin ich gefangen im digitalen Orbit einer einzelnen Person. Nach und nach werden durch den Gewöhnungseffekt die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt verschwinden. Die Transformation zum abhängigen und unfreien Menschen wäre abgeschlossen. Diese digitale Entwicklung läuft ganz automatisch auf eine Struktur hinaus, die an ein Feudalsystem erinnert, in dem die Tech-Oligarchen als Lehnsherren über mich bestimmen.

Die Dystopie hat ihren Ausgang im Hier und Jetzt: Während zahlreiche Zombieunternehmen nach und nach wegsterben, reißen sich die Tech-Plattformen weitere Wirtschaftsbereiche unter den Nagel, ohne daß die Öffentlichkeit sonderlich viel davon erfährt. Durch Corona haben sich die Prozesse dramatisch beschleunigt. Google und Facebook investieren massiv ins weltweite Gesundheitssystem und seine Privatisierung. Microsoft entwickelt das Programm ID2020, das darauf abzielt, jedem Menschen auf dem Planeten eine digitale Identifikation zu verpassen. 

Die Welt, wie wir sie kennen, ist längst nach digitalen Mustern vermessen. Jede Straße und jedes Haus wird katalogisiert, jedes Buch und jedes Foto digitalisiert. Daten, die Elektrizität des 21. Jahrhunderts, werden in schier unvorstellbaren Mengen gesammelt. So wird auch das Leben selbst als bloße Existenz kartiert. Mit welchen Folgen? Was bedeutet es, wenn die Plattformen expandieren und freie Märkte schrumpfen? Und parallel dazu die Computer der Zentralbanken unaufhörlich immer neues Geld kreieren, um das System am Laufen zu halten? Nun, zunächst einmal haben die Zentralbänker keine andere Wahl. Von unabhängigen Entscheidungen sind sie weit entfernt. In dem Moment, wo sie aufhören, Geld zu drucken, bricht das ganze System in sich zusammen. 

Doch auch an anderer Stelle hat sich damit etwas gewaltig verändert: Denn jegliche Bereiche des Privaten, sogar Gespräche unter Freunden, sind längst Teil des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses geworden. Jedesmal, wenn Sie sich mit ihrem Handy fortbewegen, erhöhen Sie damit automatisch den Wert von Software wie Google Maps, da Google weiß, wo Sie sich befinden und Ihre Daten sammelt. Google gewinnt an Wert, ohne daß Sie dafür belohnt werden. Es ist unmöglich, dieser Sammelwut an Daten zu entkommen, es sei denn, man zieht sich ohne Strom in den Wald zurück. 

Doch ans Entkommen denkt ja auch niemand: Wir sind bereits zu digitalen Profilen mutiert, die konstant versuchen, ihren eigenen Wert auf Instagram, Twitter oder Facebook zu erhöhen und Aufmerksamkeit zu generieren. Die Herrscher der digitalen Welt profitieren. Das neue System verfestigt sich. Im vergangenen Jahr sprach der Geographie-Professor Joel Kotkin erstmals vom aufkommenden „Neo-Feudalismus“. Der schwedische Philosoph Malcom Kyeyune spezifizierte den Begriff und bezeichnete die Transformationsprozesse als „Technofeudalismus“, was auch der Ökonom Varoufakis so aufgriff.

LGBTQ und Technofeudalismus schließen sich nicht aus

Und so haben wir tatsächlich einen Punkt erreicht, an dem die Verbindung zwischen Kapital und Arbeit zunehmend erodiert. Reichtum läßt sich im heutigen System auch ohne arbeitende Menschen anhäufen. Diese müssen jedoch in Abhängigkeit vom Staat gehalten werden. Schon früher versuchten uns die Marketingabteilungen von den Vorteilen der „Shared Economy“ zu überzeugen, heute schreibt das Weltwirtschaftsforum auf seiner Seite: „Du wirst nichts besitzen und du wirst glücklich sein.“ Geld wird dazu mit Hilfe von Supercomputern und willfährigen Regierungen buchstäblich aus dem Nichts geschaffen. Diese Situation kann sicherlich nicht unbegrenzt andauern – aber sie wird lange genug andauern, damit mehrere Generationen des obersten Promills, der obersten ein Prozent in oligarchischen Genüssen leben können, während die Mittelschicht zunehmend entsolidarisiert und entrechtet wird.

Während auf der Rechten jene Prozesse zaghaft erkannt werden – das populistische Moment speist sich ja größtenteils aus jener verunsicherten Mittelschicht –, ist ein Großteil der Linken ideologisch in längst untergegangenen Mustern verhaftet. In ihrer manischen Obsession, einen Kapitalismus zu Grabe tragen zu wollen, den es gar nicht mehr gibt, sind sie zu Handlangern des woken „Technofeudalismus“ geworden, indem sie ihm den kulturellen Überbau servieren. Das linksradikale LGBTQ-Universum und die digitale Zukunftsphantasie der großen Konzerne stehen sich mitnichten feindlich gegenüber, sondern sind durch das gemeinsame Ziel der Dekonstruktion des Realen verbunden. Es ist kein Zufall, daß einige Unterstützer und Spender der „woken“ Linken gleichzeitig akribisch daran arbeiten, die transhumanistische Forschung voranzutreiben. Das beste Beispiel hierfür ist Martine Rothblatt, selbst Transgender, und die am höchsten bezahlte Unternehmenschefin der USA. Sie veröffentlichte schon 2011 den Essay „Von Transgender zu Transhuman: Ein Manifest über die Freiheit der Form“ und hat bereits Hunderte Millionen in beide Richtungen gespendet.

Das Geschlecht ist nun dank der Transgender-Ideologie ein frei wählbares Identitätssubjekt, das keine Verbindung mehr zur materiellen Welt hat. Jahrtausendealte Gewißheiten werden über Bord geworfen, unser gesamtes Verständnis der Realität verändert sich radikal. Diese Idee paßt sich perfekt in die digitale Transformation ein, da es auch hier um die Vorstellung geht, das innere Selbst mehr und mehr von der physischen Welt zu entkoppeln und in der digitalen Sphäre zu binden. Die liberale Idee der individuellen Maximierung wird also durch linke Befreiungsprojekte endgültig auf die Spitze getrieben. Denn konkrete Dinge wie Geschlecht, Ethnie oder kulturelle Traditionen hindern einen nur daran, sich frei zu entfalten. Auf der anderen Seite behindern sie die Verwertungsmaschinerie des Digitalkapitalismus.

In seinem visionären Werk „Die technologische Gesellschaft“ von 1954 beschrieb der französische Soziologe und Theologe Jacques Ellul die heutigen Zwangsläufigkeiten, in denen gerade die Staaten verhaftet sind, wie folgt: „Die Idee, eine Dezentralisierung unter Beibehaltung des technischen Fortschritts zu bewerkstelligen, ist rein utopisch. Für ihre eigene Zentralisierung erfordert die Technik immer eine miteinander verbundene wirtschaftliche und politische Zentralisierung.“ Doch ist darin kein Beweis für eine Rückkehr in sozialistische Muster zu finden, wie viele unken. Denn gerade Parteien wie die Grünen, also die öffentlichen Wortführer in Sachen LGBTQ-Ideologie, arbeiten der Oligarchie und ihrem transhumanistischen „Technofeudalismus“ zu, wenn sie immer mehr Menschen in staatliche Abhängigkeit zwingen und gleichzeitig die freie sexuelle und identitäre Entfaltung des Einzelnen propagieren. Und so stellt Ellul fest: „Der Staat, der seinem Wesen nach das Organ der Zentralisierung ist, ist gleichzeitig das Organ der Wahl der technischen Zentralisierung. Wer glaubt, der Staat sei böswillig, wenn er die Zentralisierung will, beweist damit nur seine eigene Naivität. Der Staat ist gezwungen, den Plan aus ausschließlich technischen Gründen zu verwirklichen.“