© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Der Sozialismus als welthistorisches Phänomen und anthropologische Konstante
Der Westen im Würgegriff
Jan Hoffmann

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs glaubten die meisten Liberalen und Konservativen der westlichen Welt, daß der Sozialismus geschlagen sei. Das Gespenst des 19. und 20. Jahrhunderts, das mit seinen kollektivistischen Ideen und utopischen Verheißungen Millionen Menschen Armut und Tod gebracht hatte, war seiner Macht beraubt worden.

Doch die Liberalen und Konservativen lagen falsch – der Feind der freien Welt des 20. Jahrhunderts war weder ein reines Phänomen dieser Zeit, noch war er geschlagen.

„Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon eßt, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, wissen, was gut und böse ist“ (1. Mose Kap. 3, Vers 4f.).

Der Sozialismus ist eine Schlange, die sich in immer neuen Gewändern durch die Geschichte der Menschheit windet. Ihre manipulativen Versprechungen fallen immer wieder bei einer Vielzahl von Menschen auf fruchtbaren Boden und bedeuten am Ende oft nur eines: Armut, Elend und Tod.

Die Verheißungen utopischer Ideen der Gleichheit unter den Menschen sind kein Phänomen der Neuzeit. Sie erschienen im antiken Griechenland in den Werken Platons und Aristophanes, in „Der Sonnenstaat“ von Tomaso Campanella und in vielen weiteren typisch sozialistischen Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts. In letzteren werden Gesellschaften skizziert, die sich durch absolutes Staatseigentum, Frauengemeinschaft und jegliche Verneinung der menschlichen Individualität auszeichnen. In manchen Werken findet selbst der Geschlechtsakt unter der Aufsicht von Staatsbeamten statt. Neugeborene werden ihren Familien kurz nach ihrer Geburt entrissen und in staatlicher Obhut erzogen. „Das Verhältnis zwischen Vätern und Kindern ist so, als wenn sie einander nie gekannt hätten“ (Nicolas Edme, „La découverte australe par un homme volant“, deutsch „Der Fliegende Mensch“).

Kunst und Kultur unterliegen einer strengen staatlichen Zensur. Die gesellschaftliche Maxime besteht in der Maximierung der Lust – ein hedonistisches Prinzip, welches auch in der modernen Linken präsent ist und sich bei Herbert Marcuse wiederfindet. Ein Zitat aus „La découverte australe par un homme volant“, welches besonders im Kontext des heute wieder enger werdenden Meinungskorridors und des erneuten Erstarkens sozialistischer Kräfte von Relevanz ist, lautet: „daß moralische Fragen nicht der Willkür von Privatpersonen überlassen werden. Dank unserer Gleichheit und Gemeinsamkeit ist die gängige Moral einheitlich und öffentlich“.

Als die spanischen Konquistadoren 1531 das Reich der Inka entdeckten, bot sich ihnen ein Bild, wie es Igor Rostislawowitsch Schafarewitsch (1923–2017), sowjetischer Mathematiker und russischer Dissident aus Schytomyr, in seinem Werk „Der Todestrieb in der Geschichte“ wie folgt wiedergab: „Nicht nur die Arbeit, sondern das ganze Leben der Einwohner des Inkastaates wurde von Beamten beaufsichtigt. Die Beamten händigten jedem Indianer aus den Staatsspeichern zwei Gewänder aus. Es war verboten, ihren Schnitt oder ihre Farbe zu verändern. Es gab auch Gesetze gegen andere Unmäßigkeiten: Stühle waren im Haus untersagt, und niemand durfte ein größeres Haus als vorgeschrieben bauen.“

Auch im europäischen Mittelalter finden sich sozialistische Bewegungen. Die Ketzersekte der Katharer (griech. „Die Reinen“) breitete sich im 11. Jahrhundert in West- und Zentraleuropa aus. Ideal und Endziel dieser Bewegung war nichts Geringeres als der Selbstmord der Menschheit – zu verwirklichen auf direkte Weise oder durch die Einstellung von Geburten. Schwangere Frauen und Neugeborene waren für die Ketzer ein Werk des Dämons. Die Sekte zwang ihre Mitglieder, sich vom Leben der Gesellschaft zu isolieren, ihre Ehen aufzukündigen und ihr Privateigentum an die Gemeinschaft zu übergeben. Bis ins 13. Jahrhundert griffen die Katharer und ihre Ideen in Europa um sich, wobei sie besonders in Frankreich großen Zulauf fanden. Während dieser Dekaden führten sie Krieg gegen das Christentum, plünderten und brandschatzten Kirchen und ermordeten Geistliche. Schließlich löschte die katholische Kirche die Sekte, welche im mittelalterlichen Europa nicht die einzige ihrer Art war, in den Albigenserkriegen aus.

„Der Tod der Menschheit ist nicht nur ein denkbares Ergebnis, wenn der Sozialismus triumphiert, sondern er stellt das Ziel des Sozialismus dar“: Zu dieser krassen Folgerung ist Igor Schafarewitsch bei seinen Studien über das Wesen eines weitgefaßten Sozialismus gelangt („Der Todestrieb in der Geschichte“, S. 435).

Das Bild, welches die Masse der Menschen vom Sozialismus hat, ist demnach falsch und beruht auf einer verkürzten Analyse. Der Marxismus-Leninismus, welcher in der Sowjetunion, China, Kuba und der DDR zutage getreten war, stellt – wenn auch das bekannteste – nur ein Gewand dar, in das sich die Schlange im Laufe der Jahrhunderte gekleidet hat. Der Sozialismus ist gewissermaßen kontinuierlich. Er begleitete uns in der Vergangenheit und wird dies auch zukünftig tun. Seine Wandlungsfähigkeit und Eigenschaft, die Menschheit in immer neuen Kleidern und Formen zu befallen, machen seine Gefährlichkeit aus. Igor Schafarewitsch identifizierte in „Der Todestrieb in der Geschichte“ von 1975 die ideologischen Kernelemente des Sozialismus: die Zerstörung von Individualismus, Religion, Familie, Tradition und Privateigentum. Insofern gleicht jede sozialistische Bestrebung dem Versuch, die Menschheit in eine Viehherde zu verwandeln.

In der Postmoderne ist an die Stelle des marxistischen Klassenkampfes der Kulturmarxismus getreten, welcher seinen Ursprung in der westlichen Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre hat. Intersektionalität, „3rd Wave Feminism“, „Black Lives Matter“ und andere Formen der Identitätspolitik bewirken eine tiefe Spaltung der Gesellschaft. Die marxistische Verelendungshypothese findet ihr Revival in Bewegungen des Ökologismus, zum Beispiel „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“. Die Zerstörung des Planeten wird als apokalyptisches Szenario eines ausufernden Kapitalismus propagiert, dem nur eine Kontroll- und Lenkungswirtschaft Einhalt gebieten könne. Große Teile der jungen Generation gehen auf die Straße, um für höhere Steuern, staatliche Lenkung und mehr Bevormundung zu demonstrieren, während die Schlange medial flankiert und von höchsten Kreisen hofiert die traditionelle Familie attackiert.

Auf Twitter finden sich Bilder einer feministischen Demonstration in den USA, deren Teilnehmer Plakate mit Slogans wie „My abortion was wonderful“ und „Parasites don’t have rights“ hochhalten. Längst ist es soweit, daß die Hauptstrommedien die Klimaschädlichkeit von Kindern gegenüber der Bevölkerung propagieren. In diesem Kontext sei noch einmal auf das historische Beispiel der Katharer verwiesen. Jüngste Untersuchungen aus den USA belegen, daß Amerikaner unter 30 Jahren dem Sozialismus positiver gegenüberstehen als der Marktwirtschaft (Emily Ekins und Joy Pullmann „Why so many milliennials are socialists“). „Im Tod sind alle gleich – deshalb ist der Völkermord die Lieblingsbeschäftigung der Gleichmacher“, lautet eine der trockenen Sentenzen Roland Baaders.

Während die Schlange den Westen im Inneren fest in ihrem Würgegriff hat, steht der Drache vor den Toren der freien Welt. China und die Kommunistische Partei (KPCh) sind die womöglich größte Gefahr für die Freiheit und die Werte der westlichen Zivilisation. Abgesehen von den barbarischen Taten der Nationalsozialisten im Dritten Reich ist China das Paradebeispiel für die totalitären und genozidalen Tendenzen kollektivistischer Ideologien. Der Massenmord an der eigenen Bevölkerung im Zuge der Kulturrevolution, deren Opferzahl in die Millionen geht und unmöglich geschätzt werden kann, ist womöglich das bekannteste Verbrechen der KPCh.

Doch auch in der jüngeren Vergangenheit hat das Regime in Peking nichts von seiner Barbarei eingebüßt. Die Minderheit der Uiguren, welche an den Islam und nicht an den Kommunismus, der in China alle Religionen verdrängt oder gleichgeschaltet hat, glaubt, wird in „Umerziehungslagern“ interniert. Dabei verzichtet die KPCh auf die direkte Tötung und dezimiert die Uiguren durch Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisierungen. Im Zuge der Ein-Kind-Politik wurden in den Jahren 1979 bis 2012 „mindestens 270 Millionen Abtreibungen“ durchgeführt. „In anderen Worten hat die KP Chinas mehr als eine Viertelmilliarde ungeborener Kinder in diesem Zeitraum getötet“ („Wie der Teufel die Welt beherrscht“, Hrsg. Epoch Times Europe, 2020, Band 1). Andere Quellen sprechen von mindestens zehn Millionen staatlichen Zwangsabtreibungen pro Jahr (Robert Zubrin in The Washington Times).

Der Sozialismus muß jegliche Form der Religion bekämpfen, um selbst zur Religion zu werden. Die KPCh hat die christlichen Kirchen in China unter ihre Kontrolle gebracht und unter anderem zum Ausbau ihres Einflusses auf westliche Nationen gleichgeschaltet.

Als sich Mitte der neunziger Jahre im Reich der Mitte die spirituelle Lehre von Falun Gong ausbreitete, ordneten die höchsten KPCh-Funktionäre die systematische Verfolgung aller Praktizierenden an. Falun Gong hat in China etwa 70 Millionen friedliche Anhänger, die seitdem von Medien und Bildungseinrichtungen als gefährliche Sekte gebrandmarkt werden. Das wohl größte Verbrechen Chinas im 21. Jahrhundert ist der Organraub an inhaftierten Falun-Gong-Anhängern, Tibetern und Uiguren, welche auf Bestellung getötet werden. In China gibt es kein ausgeprägtes Organspendesystem, dennoch werden dort jährlich zwischen 60.000 und 100.000 Organtransplantationen durchgeführt (Internationale Gesellschaft für Menschenrechte: „20 Jahre Falun-Gong-Verfolgung und Organraub in China“, URL www.igfm.de/20-jahre-falun-gong-verfolgung-und-organraub-in-china).

Peking hat in den Vereinten Nationen längst alle totalitären und quasifaschistischen Staaten um sich geschart und schickt sich an, die Vereinigten Staaten als hegemoniale Macht abzulösen. Die Öffnung Chinas für wirtschaftliche Kooperation war ein trojanisches Pferd, bei dem die Partei versucht, westliche Hochtechnologie unter ihre Kontrolle zu bringen und die Wettbewerber durch Dumpingpreise aus dem Markt zu drängen. Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas versuchen seit Jahren, große US-Firmen wie Pfizer, Boing und Qualcomm an wichtigen Schnittstellen zu infiltrieren.

Der Westen und unser Land stehen an einem Scheideweg. Zieht die freie Welt eine Brandmauer gegen unsere Feinde oder läßt sie es zu, daß Millionen in Diktatur und Tyrannei ihr Leben verlieren? Eigentum, Aufklärung, Rechtssicherheit und Redefreiheit sind nicht selbstverständlich – sie stellen vielmehr eine absolute Ausnahmeerscheinung in der Menschheitsgeschichte dar.

Leider ist der Liberalismus, der in Deutschland noch nie stark ausgeprägt war, zu einem absoluten Trauerspiel verkommen. Während ein Großangriff auf unsere Freiheit stattfindet, scheinen die größten Wünsche des FDP-Nachwuchses, der Jungen Liberalen, der Wunsch nach Aufhebung des Inzestverbots zwischen Verwandten ersten Grades zu sein. Hier treten die Auswirkungen der kulturmarxistischen Beeinflussung offen zutage.

Womöglich mag der Sozialismus ein weiteres Mal siegreich sein. Womöglich gelingt es uns, ihn eines Tages erneut niederzuringen. Doch er wird nie ganz und gar verschwinden. Wir sollten aus der Geschichte lernen und auf seinen nächsten Angriff besser vorbereitet sein. Für alle Menschen, denen unsere Werte und Zivilisation am Herzen liegen – es heißt Freiheit oder Barbarei.






Jan Hoffmann, Jahrgang 1994, ist Unternehmer und studiert BWL an der Internationalen Hochschule in Bad Honnef.

Foto: Walter Womacka (1925–2010), „Wenn Kommunisten träumen“, 1975: Der dissidente sowjetische Mathematiker Igor Schafarewitsch sah am Horizont die Konturen eines sozialistischen Weltstaats. Seine Untersuchung hat heute noch an Aktualität gewonnen.