© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Ein später Sieg des Stalinismus
Droht der Gesellschaft „Memorial“ die Auflösung? Wer über den Stalinismus aufklärt und Menschenrechtsverletzungen anprangert, hat unter Präsident Putin keine guten Karten
Jürgen W. Schmidt

Die russische Generalstaatsanwaltschaft wirft der Gesellschaft „Memorial“ vor, mehrfach gegen ein in Rußland gültiges Gesetz verstoßen zu haben. Deshalb verkündet das Oberste Gericht am 25. November seine diesbezügliche Entscheidung über die gegebenenfalls zu erwartende Auflösung der Gesellschaft. „Memorial“ spricht zu Recht von einer „politischen Entscheidung“, deren Ziel die „Zerstörung“ einer Organisation sei, die sich mit der Geschichte politischer Repressionen und mit dem Schutz der Menschenrechte befasse. Das besagte Gesetz, das erst seit 2017 gültige ist, verpflichtet Russen und russische Organisationen, sich als „Agenten“ zu registrieren lassen, falls man aus dem Ausland Gelder bezieht oder als ausländische Lobby-Organisation auftritt. Gegen dieses Gesetz hat „Memorial“ unzweifelhaft verstoßen, denn die Gesellschaft bezog für ihre Tätigkeit regelmäßig Gelder aus dem Ausland, darunter von der amerikanischen Soros-Stiftung, der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung, der UNHCR und auch vom Europarat. 

Stalins Repressionen erforscht und Opferlisten aufgestellt

Es wäre seitens der Gesellschaft „Memorial“ zweifellos klüger gewesen, sich gemäß des erwähnten „Agenten“-Gesetzes registrieren zu lassen, zumal dieses Gesetz im Westen stets nur ganz verzerrt Erwähnung findet. Unter einem „Agenten“ versteht man im Russischen eben nicht wie beispielsweise im Deutschen oder Englischen den „Geheimdienstler“, sondern man bezeichnet damit Berufsgruppen wie „Versicherungsagenten“ „Geschäftsvertreter“ oder „Handelsmakler“. Für Spione und Geheimdienstmänner gibt es im Russischen sehr spezielle Bezeichnungen wie etwa „Schpion“ oder „Razwedschik“. In den USA existiert übrigens ein ganz ähnliches Gesetz namens „Foreign Agent Registration Act“ (FARA), im Jahr 1938 unter Präsident Franklin D. Roosevelt erlassen, um „unkontrollierte“ Aktivitäten deutscher Wirtschaftsunternehmen und Regierungsstellen zu unterbinden. Jenes 1948 novellierte Gesetz ist heute noch in Kraft und dient beispielsweise in der Gegenwart als Druckmittel im US-amerikanischen Wirtschaftskrieg gegen Rußland. 

Trotzdem muß man konstatieren, daß aktuell in Rußland dieser formelle Gesetzesverstoß der Gesellschaft „Memorial“ brutal ausgenutzt wird, um der ältesten in Rußland existierenden Menschenrechtsorganisation aus rein politischen Motiven nach über dreißig Jahren Existenz das Lebenslicht auszublasen. Die Gesellschaft „Memorial“ nahm ihre Anfänge lange vor Perestroika-Zeiten. Auf dem XXII. Parteitag der KPdSU (JF 42/21) im Oktober 1961 war nämlich im Rahmen von Entstalinisierungsmaßnahmen verkündet worden, in Moskau ein Denkmal, eine „Gedenkstätte“ (russ. „Memorial“) zu errichten. Allerdings wurde dieser Parteitagsbeschluß schnell wieder vergessen. Erst im Jahre 1987 fand sich in der damaligen Sowjetunion eine Graswurzel-Bürgerbewegung zusammen, welche dieses „Memorial“ nun einforderte und sich deshalb im Januar 1990 offiziell als politische Organisation registrieren ließ. 

Neben der Forderung nach dem erwähnten „Memorial“ nahm sich die Bürgerbewegung zunehmend der politischen Aufarbeitung des Stalinismus und der Ausleuchtung der Rolle der sowjetischen Geheimdienste als Unterdrückungsmittel der eigenen Bevölkerung an. Immerhin war der damals noch existente KGB unmittelbarer Nachfolger des Stalinschen NKWD. Überall im Land wurde durch „Memorial“ nunmehr die historische Erforschung der Stalinschen Repressionen, die Aufstellung von Opferlisten und regionalen Gedenkbüchern und die Aufarbeitung des Gulag-Systems angestoßen. Nur dank „Memorial“ gelang es das einstige Gulag-Lager „Perm 36“ als die bislang einzige Gulag-Gedenkstätte in Rußland zu erhalten. Lobend wäre auch der russische Historiker Nikita Petrow zu erwähnen, der intensiv durch biographische Handbücher und publizierte Dokumentensammlungen die Geschichte des Stalinschen Geheimdienstapparates aufhellte oder aber die Publizistin Irina Scherbakowa, welche mittels Video-Interviews Zeugnisse zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion sammelte. 

Dank „Memorial“ wurde es in vielen russischen Städten üblich, jeweils am 29. Oktober, dem Vorabend des russischen Gedenktages für die Verfolgung politischer Opfer, öffentlich die Namen derer zu verlesen, die Opfer des Stalinschen Terrors wurden. Weil sich „Memorial“ in seiner Satzung von 1998 als Ziel setzte, auf der Grundlage demokratischer Werte zur Schaffung eines Rechtsstaates in Rußland beizutragen, welcher „eine Rückkehr des Totalitarismus“ ausschließt, kam die Gesellschaft jedoch zunehmend mit dem immer mehr autoritäre Tendenzen aufweisenden russischen Staat unter Wladimir Putin in Konflikt. Man beschränkte sich nämlich seitens von „Memorial“ nicht mehr allein darauf, die Stalin-Ära anzuprangern, sondern nahm zum aktuellen politischen Geschehen in Rußland durchaus kritisch Stellung. Im Jahr 2008 beispielsweise forderte „Memorial“ den Rücktritt des damaligen russischen Generalstaatsanwaltes, welcher plante, in sogenannten Terrorprozessen „vereinfachte Verfahren“ einzuführen. Besonders kritisierte „Memorial“ seinen Vorschlag, im Falle flüchtiger kaukasischer Terroristen deren Familienangehörige als „Gegengeiseln“ büßen zu lassen, weil das sehr an Stalinsche Praktiken erinnere.

Es gibt massive Anzeichen einer Stalin-Renaissance in Rußland

2016 veranstaltete „Memorial“ in Moskau eine internationale Schulbuchausstellung speziell zum Zweiten Weltkrieg und kritisierte dabei die Praxis russischer Schulbücher, die Ermordung polnischer Offiziere in Katyn mittels der 1920 in polnischer Gefangenschaft umgekommenen Rotarmisten zu rechtfertigen. Doch schon diese sehr umstrittene Schulbuchausstellung zeigte, daß „Memorial“ im eigenen Land der Wind zunehmend ins Gesicht bläst.

In Rußland sind aktuell massive Anzeichen einer Stalin-Renaissance zu erkennen. Unter erheblichen Teilen der russischen Bevölkerung herrschen mittlerweile Tendenzen vor, den Stalinschen Terror aufzurechnen mit der Notwendigkeit, den „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen das stets feindliche Ausland gewinnen zu müssen. Ebenso werden hartnäckige Anstrengungen unternommen, den Stalinschen Geheimdienstchef Lawrenti Berija wenigstens teilzurehabilitieren, denn er habe als Stalins „Atommanager“ das Kernwaffenmonopol der USA gebrochen und der Sowjetunion den Weg zur Weltmacht gebahnt. „Memorial“ leistete gegen solche Tendenzen Aufklärungsarbeit und geriet dadurch mehr und mehr ins Fadenkreuz Putinscher großrussischer Machtpolitik. Deshalb ist nun tatsächlich die Auflösung der Gesellschaft „Memorial“ zu befürchten. 

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