© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Nicht für die Klasse, sondern für das ganze Volk
„Retter der Weimarer Republik“ oder „Bluthund“ des Proletariats: Vor 75 Jahren starb der streitbare Sozialdemokrat Gustav Noske
Stefan Scheil

Die Sozialdemokratie wird nicht dulden, daß das deutsche Volk von irgendeinem anderen Volk an die Wand gedrückt wird.“ Mit diesen Worten betritt Gustav Noske im April 1907 die große politische Bühne in Berlin. In seiner ersten Rede als Abgeordneter des deutschen Reichstags weist er alle Vorwürfe zurück, die deutsche Sozialdemokratie könnte ein Interesse daran haben, Deutschland wehrlos zu machen oder ihm eine Niederlage zufügen wollen. Nein, das Land sollte verteidigungsfähig sein und in diesem Schutz „für das ganze Volk so wohnlich, so freiheitlich und kulturell hochstehend werden, wie es nur einigermaßen geht“. 

Diese Worte scheinen notwendig zu sein. Wenige Monate vorher haben die Sozialdemokraten im Januar 1907 ihre erste und für die Dauer des Kaiserreichs einzige Niederlage bei landesweiten Wahlen einstecken müssen. Man spricht danach von „Hottentottenwahlen“, weil im Wahlkampf hauptsächlich um die Bewilligung von Geld für den deutschen Expansionskurs in Afrika gestritten worden ist. Die Sozialdemokraten lehnen das nicht völlig ab, stellen aber schwer vermittelbare Bedingungen und stimmen schließlich gemeinsam mit der Polenpartei im Parlament dagegen. Daher kommt die SPD wieder einmal in den Ruf nationaler Unzuverlässigkeit, diesmal mit schweren politischen Folgen. 38 von 81 Mandaten gehen verloren. Gustav Noske kann seinen Wahlkreis in Chemnitz gewinnen.

Seine Antwort im Reichstag trifft innerparteilich auf gespaltenes Echo. Das Spektrum reicht von schärfster Kritik bis zu Zustimmung, denn die SPD kann innerparteilich einfach keinen einheitlichen Standpunkt zur Nation finden. Die Parteilinke lehnt es ab, sich auf einen Patriotismus festlegen zu lassen, der das ganze Volk umfassen soll, man setzt dort auf Klassenkampf. Noske führt über diesen Punkt Auseinandersetzungen mit Parteitheoretiker Karl Kautsky, der sich auf ein besonders ausgeklügeltes, dreigliedriges Nationalgefühl zurückziehen will. Noske kontert ironisch, wie es denn wohl möglich wäre, „in der praktischen Agitation, geschweige denn im Kriegsfall, seinen Zuhörern den Unterschied zwischen kapitalistischem, kleinbürgerlichem und proletarischem Patriotismus verständlich zu machen“.

Noske weiß, daß dies aussichtslos sein würde und diese Überzeugung durchzieht sein weiteres politisches Leben. Er ist als nationalbewußter Deutscher stets für die Landesverteidigung, besonders bei einem russischen Angriff. Dies gilt auch im Jahr 1914, als dieser Angriff dann tatsächlich kommt. Noske gehört damals nicht zu den Sozialdemokraten, die sich zu inneren Agitationszwecken oder von alliierter Seite das Gegenteil einreden ließen und von einem deutschen Angriff sprachen. Erneut taucht hier der Name Karl Kautsky auf, der erst noch das Kriegsende und ein jahrelanges Aktenstudium brauchen wird, bis auch er zur Einsicht kommt, daß die deutsche Regierung den Krieg 1914 nicht gewollt hat.

Reichswehrminister Noske war das Feindbild der Kommunisten

Sein Verantwortungsgefühl läßt den 1868 geborenen Korbmacher Noske nach der Revolution von 1918 im Folgejahr schließlich kurzfristig bis zum Reichswehrminister aufsteigen. Es versetzt ihn in die Lage, den weiteren linksextremen Umsturzversuchen zur Jahreswende 1918/19 auch mit Waffengewalt entgegenzutreten. Am 9. März 1919 erging die Weisung Noskes: „Jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen.“ Das wird ihm von dieser Seite nicht verziehen und versieht seinen Namen bis zum heutigen Tag mit dem Prädikat „umstritten“. Gerade von den Linken wurde gegen den mit den alten Eliten gegen sie kämpfenden „Bluthund“ Noske agitiert. Dieser Ausdruck ging auf eine Besprechung zwischen Generalität und Reichsregierung zurück, um die Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes zu befehlen, in der Noske bekannte: „Einer muß der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!“ Nach dem gegenrevolutionären Kapp-Putsch 1920 erzwingen die Gewerkschaften Noskes Rücktritt. 

Damit ist seine politische Laufbahn auf der Berliner Ebene beendet. Er wird immerhin noch Regierungspräsident in Hannover und muß die deutsche Katastrophe des Zweiten Weltkriegs noch miterleben, bis er dort vor 75 Jahren, am 30. November 1946 an den Folgen eines Schlaganfalls stirbt. Gustav Noskes politisches Leben und Werk stehen exemplarisch für den früheren Dauerkonflikt der SPD mit sich selbst und der Verantwortung für das deutsche Volk als Ganzes. Einen Konflikt, den man heute wohl für entschieden erachten kann, beteiligt sich die Partei anders als 1907 doch lebhaft an den Bestrebungen, das deutsche Volk an die Wand zu drücken.

Foto: Reichswehrminister Gustav Noske (l.) inspiziert 1919 mit General Georg Maercker eine Reichswehrabteilung: Er steht exemplarisch für den Dauerkonflikt in der SPD