© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Bonner Ballast abwerfen
Thesenstarke Beiträge zur antidemokratischen Geschlechterordnung der Adenauer-Ära
Oliver Busch

Die „großen Erzählungen“ zur Geschichte der Bundesrepublik wie Anselm Doering-Manteuffels „Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert“ (1999) oder Heinrich August Winklers „Der lange Weg nach Westen“ (Band 2, 2000) kommen ohne „die Frage nach dem Geschlecht“ aus. Für Isabel Heinemann (Bielefeld) und Martina Steber (München) ein schier unerträglicher Befund. Zumal die avantgardistischen „KollegInnen“ im vorbildlichen  Westen den bundesdeutschen Hinterwäldlern wieder mal meilenweit voraus seien und die ihnen hierzulande so peinliche „geschlechterhistorische Lücke“ angeblich längst geschlossen hätten. Weil eben in Großbritannien und den USA „die intersektionale Betrachtung der Zeitgeschichte inzwischen selbstverständlich ist“. 

Um den Rückstand endlich aufzuholen, etablierte sich am Institut für Zeitgeschichte (IfZ, München/Berlin) 2018 ein Arbeitskreis „Demokratie und Geschlecht“, der nun sechs „thesenstarke Beiträge“ präsentiert, die sich bislang unbeachteten Konflikten um die „Gesellschafts- und Geschlechterordnung“ widmen, wie sie in den Annalen des „lebendigen Laboratoriums“ der westlichen Besatzungszonen und der daraus entsprungenen Bonner Republik verzeichnet sind (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4/2021).

Mit Widerwillen stellen Heinemann und Stebner in ihrem einleitenden Essay fest, daß der 1949 aus der Taufe gehobene demokratische Staat „dominant männlich und selbstredend heteronormativ geprägt“ gewesen sei. Schlimmer noch: Bis zum Mauerfall habe der aus reichsdeutscher Zeit überlieferte, Heinemann & Co. wie steinzeitlich anmutende  überparteiliche Konsens bestanden, es gebe so etwas wie „Polarität der Geschlechter“. Aufgrund dessen  „Geschlechterrollen“ allen Ernstes „naturalistisch“, also biologisch fixiert begriffen worden seien. Und nicht wie es die von Judith Butler Erweckten heute allein noch akzeptieren, als Erzeugnis „sozialer Kategorisierung“. Dem „Aufbruch in die Demokratie“ haftete somit der schwere Geburtsfehler betonierter „Ungleichheit der Geschlechter“ an. Ungeachtet der Tatsache, daß Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) die Gleichberechtigung der Geschlechter statuierte. Um diesen trotz mancher gesetzgeberscher Korrekturen nicht getilgten Makel kreisten dann bis in die späten 1970er die Debatten über die Legitimität der „patriarchalen Ordnung“ und über das Gewicht, das der Familie für die Stabilität der jungen Demokratie gebühren sollte.

Nabelschnur zur heteronormativen Vergangenheit kappen

Beide frauenbewegte Zeithistorikerinnen beurteilen und bewerten diesen Teil des von ihnen im kältesten technizistischen Homo-Faber-Jargon wahlweise so genannten „Demokratie-“ oder „Restaurationsprojekts“ vom Standpunkt der „bunten“ Berliner Republik aus. Was die Familien- und Eherechtsreform der sozialliberalen Koalition, die 1977 in Gesetzesform gegossen wurde, lediglich juristisch einläutete, so besingen sie „das beste Deutschland, das es je gab“ (Frank-Walter Steinmeier), sei tatsächlich erst nach der Wiedervereinigung „kulturell und sozialpolitisch aufgebrochen“ worden –  zugunsten „vielfältiger Familienformen“, wie sie einer „pluralistischen Gesellschaft“ allein angemessen seien.

Alle Beiträger, erzogen in der windstillen westdeutschen Schönwetterdemokratie, verstehen Politik so, als ließen sich Staat, Gesellschaft und „selbstredend“ Geschlecht als perfekt beherrschbare „Projekte“ starten und managen. Es hätte, so die latente Unterstellung, in der Allmacht ihrer Eltern und Großeltern gestanden, schon zwischen 1945 und 1980 eine nicht-„heteronormative“ Lebensordnung „auszuhandeln“. Vom „Böckenförde-Diktum“, demzufolge der freiheitliche, säkularisierte Staat die Voraussetzungen, auf denen er beruht und von denen er auf Gedeih und Verderb abhängt, nicht selbst erzeugen könne, ist dieser akademischen Fraktion der „Generation Golf“ anscheinend nie etwas zu Ohren gekommen. Was es unseren Wolkenkuckucksheimern immens erleichtert, auf dem Blindflug ins Nirwana fröhlich Ballast abzuwerfen. Dazu zählt für sie mittlerweile nicht nur das historische Erbe des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, sondern auch das der westdeutschen Demokratie, weil sie eben eine „Männergesellschaft“ geblieben sei, die das Ideal der Familie als Keimzelle, Hort und „Stabilitätsrest der Demokratie“ (Helmut Schelsky) so wenig angetastet habe wie die traditionelle Rollenverteilung.

Der gewaltigste Gleichmacher ist das kapitalistische Produktionsregime, das rigoros auch alle weiblichen Arbeitskraftreserven dem unersättlichen Moloch der „Großen Industrie“ zuführt, der kein anderes Band zwischen Menschen als das des „nackten Interesses und der ‘baren Zahlung’“ (Karl Marx) kennt. Soweit sich CDU, FDP und SPD gleichermaßen an „Ehe und Familie als die Grundlagen unserer Lebens- und Gesellschaftsordnung“ (Liselotte Funcke, FDP) klammerten, taten sie es, weil diese Politikergeneration überzeugt war, was „Halt und Zuflucht in den Notjahren des Krieges und in der ersten Nachkriegszeit“ (1975 unisono Hans-Jochen Vogel, SPD, und Paul Mikat, CDU) gegeben habe, könnte auch der Auflösungsdynamik der damals gerade anrollenden zweiten Globalisierung trotzen. 

In der Rückschau der IfZ-Truppe war das ein ähnlich sinnlos-reaktionäres Bremsen wie einst der Kraftakt des ersten Bundesfamilienministers Franz-Josef Wuermeling (CDU), der in den frühen 1950ern mit steuerlichen Anreizen lockte, um die „Ehefrauen aus Fabriken und Büros“ zurückzuholen, damit sie die „Kernfamilie“ retteten. Womit er zwar im Trend lag, wie Heinemann einräumt, da die „heteronormative“ Familie im westlichen Kulturkreis noch als „Stabilitätsgarantin der Demokratie“ galt – wenn auch angeblich niemand sonst eine so „christlich-moralisch verbrämte invasive Familienpolitik“ propagierte wie Wuermeling. Aber der für Heinemann als Repräsentant der Wiederaufbau-Generation gleichwohl ein Geschichtsverlierer ist, da er sich vergeblich gegen den von ihr als „Schicksal“ maskierten „Wandel in der hochindustrialisierten Gesellschaft“ gestemmt habe, den die naive Bielefelder Professorin für die Segnungen der „Liberalisierung und Emanzipation“, der „Verflüssigung gesellschaftlicher Strukturen und privater Bindungen“ preist. 

Dabei ergibt sich ein fundamentaler Unterschied zum Geschichtsverständnis der zackig abgefertigten Hedwig Richter (Hochschule der Bundeswehr München). Während diese die Bundesrepublik als „zwangsläufiges Produkt eines linearen Modernisierungsprozesses“ konstruiere, so daß sie zwecks Identitätsstiftung weit zurückgeht und noch die Vormärz-Demokraten in ihr „Narrativ“ integriert (JF 14/21), kappt der IfZ-Arbeitskreis mit Hilfe des scharfen Schwertes „Heteronormativität“ jede Nabelschnur zur Vergangenheit. Ältere deutsche Gemeinwesen, auch die beiden demokratisch verfaßten vor 1990, benötigen Geschichtsideologen dieses Schlages höchstens als häßliche Kontrastfolien, um die Einzigartigkeit des „multikulturellen“ Berliner Vielvölker-Agglomerats zum Strahlen zu bringen und so deren „Eliten“ im Irrglauben zu festigen, sozialer Zusammenhalt und humanes Miteinander ließen sich herstellen ohne Rücksicht auf derart altmodische Wirklichkeiten wie Volk, Nation, Geschichte, biologisches Geschlecht, Ehe und Familie.

 www.ifz-muenchen.de

Foto: CDU-Wahlplakat zur Bundestagswahl am 19. September 1965: Die Familie als Keimzelle, Hort und „Stabilitätsrest der Demokratie“ wurde ebensowenig angetastet wie die traditionelle Rollenverteilung