© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Lügenpräsident Lukaschenko
Christian Ganzer über frei erfundene Geschichtsnarrative
Oliver Busch

Im Jahr 2005, beim Treffen mit Weltkriegsveteranen in Wolgograd (ehemals Stalingrad), heuchelte Alexander Lukaschenko viel Verständnis für deren Schicksal. Niemand empfinde tiefer mit ihnen als er, denn auch sein eigener Vater sei im Zweiten Weltkrieg gefallen. Geboren wurde der damalige und heutige Präsident Weißrußlands am 30. August 1954.

Einprägsam illustriert diese Anekdote das pragmatische Verhältnis des Minsker Autokraten zur Wahrheit. Nicht nur darin erweist er sich jedoch als gelehriger Schüler von Machiavellisten wie Jean-Claude Juncker, bis 2019 Präsident der EU-Kommission, der die Lüge zur Regierungsmaxime erkor. Denn vom „Team Umvolkung“ („Lifeline“-Eigenwerbung) in Brüssel und Berlin hat Lukaschenko auch einen Grundkurs „Menschenhandel“ absolviert, so daß er jetzt blitzartig zu dessen härtesten Konkurrenten im Schleusergeschäft aufsteigen konnte.

Angeblich fünfwöchiger Kampf um Brest-Litowsk 1941

Hier drängt sich eine systemvergleichende Studie über west-östliche Herrschaftspraktiken und Politikverständnisse geradezu auf. Christian Ganzer hingegen konzentriert sich voll auf diesen „Lügenpräsidenten“ und seinen aparten Umgang mit historischer „Wahrheit“. Dafür wählt der frisch promovierte Leipziger Historiker das „Geschichtsnarrativ“ von der „‚heldenhaften Verteidigung der Brester Festung“ zu Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Juni 1941. Zwar finden sich auch auf diesem Feld faustdicke Parallelen zu der auf „Internationalisierung“ nationaler Erinnerungskollektive erpichten Geschichtspropaganda der Eurokaten. Doch Ganzer, die Karriere und aus Brüssel vielleicht noch winkende Drittmittel fest im Blick, deutet lieber Ähnlichkeiten mit dem wie Lukaschenko „gewohnheitsmäßig lügenden“ Donald Trump an. 

In seiner in diesem Jahr publizierten Dissertation über den frei erfundenen „Heldenkampf“ um Brest-Litowsk, aus der ein Auszug in der Berliner Debatte Initial (2/2021) erschienen ist, widmet sich Ganzer einem „Erinnerungsort“, der neben Leningrad und Stalingrad zu den bekanntesten der verflossenen UdSSR gehörte und der heute „die wichtigste derartige Einrichtung in Belarus ist“. Was die sowjetische Propagandamaschinerie dort – unter Ausblendung der Shoa an Ort und Stelle – inszenierte, läuft seit dreißig Jahren unter weißrussischer Regie einfach weiter. Wo Generationen von Sowjetbürgern durchgeschleust und im Glauben erzogen worden waren, die „bis zum letzten Mann“ kämpfenden Brester Helden hätten der Wehrmacht nicht vier Tage, sondern fünf Wochen getrotzt, bekommen jetzt Kohorten weißrussischer Besucher „bedingungslose Unterordnung unter autoritäre Herrschaft“ als politisch vorbildliches Verhalten vermittelt. So lasse sich das museale stalinistische Erbe weiter für die „Legimitierung der weitgehend ideologiefreien, kleptokratischen Diktatur“ Alexander Lukaschenkos nutzen.

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