© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Aufregungsbedürftige Temperamente
Herfried Münkler über Karl Marx, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche und ihren Zorn auf die Bürgerlichkeit
Eberhard Straub

Hinter den Rücken des Geldwesens zu gelangen, ist vielleicht der Sinn der moralischen und sogar religiösen  Revolution, in der wir zu stehen scheinen“, bemerkte 1922 Hugo von Hofmannsthal. Er war vertraut mit Nietzsche und Wagner, kaum mit Marx, über die als Seismographen der „Welt im Umbruch“ Herfried Münkler jetzt eine Studie vorlegt. Alle drei verachteten den Philister, von dem es zum Verdruß des Nürnberger Meistersingers Veit Pogner überall hieß, „daß nur auf Schacher und Geld / sein Merk der Bürger stellt“. Wagners reicher Goldschmied spricht wie der junge Marx, der 1843 im Bürger den Zwilling des schachernden, feilschenden Juden schilderte, von dem er gar nicht zu unterscheiden sei, weil von der Übermacht des Geldes so überwältigt wie „der Jude“, dem daseinsgefräßige, auf ihren Vorteil bedachte, ehrbare Kaufleute vorwarfen, diesem Gott und Herrscher besonders ergeben zu dienen.

Phänomen totaler Entfremdung im mechanischen Staat

Das Geldwesen oder der Kapitalismus berührte das gesamte Leben, das sich im Zusammenleben entwickelt, ob in Staat, Kirche und gesellschaftlichen Organisationen oder im ganz neuen, industriemäßigen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb. Diese einzelnen Systeme mit ihren Subsystemen und mit ihrer Betriebsamkeit veränderten die Welt zum Betrieb, in dem der zur Freiheit bestimmte Mensch der Getriebene und nicht der Treiber ist, ein nützliches Bruchstück, „ewig  nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre“, bloßer  Abdruck seines Geschäftes und deshalb sich selbst entfremdet. Eindrucksvoll entwarf Friedrich Schiller 1794 im sechsten und siebten Brief seiner „Ästhetischen Erziehung“ die gebotene Funktionstüchtigkeit künftiger fragmentierter Humanelemente und fährt dann fort: „Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstract des Ganzen sein dürftiges  Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinem Bürger fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet“.

Erstaunlicherweise streift Herfried Münkler nur einmal in rein ästhetischen Zusammenhängen Schillers Briefe, obschon dort doch zum erstenmal das Phänomen der totalen Entfremdung im mechanischen Staat und einer ganz mechanisch verstandenen Umwelt behandelt wird. „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“, wie knapp und präzise der philosophische Clown Karl Valentin die Befindlichkeit des modernen Ich im „Projekt der Moderne“ bestimmte. Die Projektemacher der Moderne machten im Namen großer, für sie gar alternativloser, Verheißungen die Welt unwirtlich und zur beängstigenden Fremde, in der sich keiner mehr zurechtfand. Höchstens Wagners kolossal bürgerlicher Fafner, der  sich vorübergehend  damit beruhigte: Ich lieg’ und besitz’/ laßt mich! Dieser  genügsame, vorsichtige Rentier und Privatier wiegte sich allerdings in falscher Ruhe.

Wagner, Marx und Nietzsche, äußerst aufregungsbedürftige Temperamente, wollten gerade solche Nichtsnutze, reine Genußmenschen oder sich dem Fortschritt verweigernde Dunkelmänner je auf ihre Weise moralisch „erledigen“ und ihnen energisch zu verstehen geben, sich nicht darauf verlassen zu dürfen, sorglos und sicher vor sich hin leben zu können. Die Bürgerlichkeit, die sich als Glaube an das Geld und in der Kreditwürdigkeit, dem neuen Credo der um das Geld gescharten Erfolgreichen, manifestierte, begriffen sie als die Macht, die danach trachtete, jeden Wandel hin zu einer besseren Welt aufzuhalten oder zu verhindern. Dieser Zorn war das einzige, was sie miteinander verband.  Richard Wagner,  1848/49 im Gegensatz zum Stubengelehrten Karl Marx, der über die Revolution nachdachte, tatsächlich ein Aktivist, sah vor allem im Künstler und der Kunst ein revolutionierendes Element. Das brachte ihn in einen engen Zusammenhang mit den Anschauungen Pierre-Joseph Proudhons, der im Gegensatz zu Karl Marx gerade auf den Künstler und das Kunstwerk der Zukunft seine Hoffnungen setzte, auch Theologie, Religion und überhaupt Ideen beachtete, um einen neuen Geist zu ermöglichen, der Staat und Gesellschaft  durchdringt und einen neuen Menschen ermöglicht, der den Weg ins Freie einschlägt und damit zur Freiheit.

Von Proudhon redet Münkler nicht, weil Marx, der viel von ihm gelernt hatte, ihn bald als Konkurrenten abschätzig beurteilte. Deshalb vernachlässigten Deutsche – trotz Richard Wagner – diesen phantasievollen Denker, der außerdem auch noch ein Sprachkünstler und Redner mit Sinn für dramatische Steigerungen war, was ihn vom umständlichen und spröden Marx unterschied. Proudhon erreichte Dichter, Maler und Musiker, und wegen seines Temperamentes auch Arbeiter. Die Werke von Marx wurden in Frankreich – aber auch in Italien, Spanien und Südamerika – erst nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem Eindruck der Sowjet-union als Weltmacht, gelesen. Proudhon dachte an einen sittlich erneuerten Menschen, um zu seiner gerechten Ordnung der Freien zu gelangen. Darin folgte ihm Wagner, von deutschen Idealisten darüber unterrichtet, daß die erreichte innere Freiheit überhaupt erst die äußere Freiheit im Freistaat als Organisation der frei von Zwängen und Vorurteilen Gewordenen ermögliche.

Karl Marx ist für Münkler der Prophet der Globalisierung

Für Friedrich Nietzsche bedurfte es der durch Kunst und Wissenschaft zu unerschrockener Selbständigkeit Gereiften, damit diese als „Übermenschen“ fähig wären, über die Durchnittlichkeit der Herdenmenschen hinauszuwachsen und der niederdrückenden Mittelmäßigkeit entrinnen zu können, die in der sich demokratisierenden Massengesellschaft jeden davon abzuhalten versucht, sich zum höheren Menschen zu entwickeln. Der Sozialismus und die mit ihm unweigerlich verquickte Gleichheit bedrohe den freien Geist, die Kultur und das Schöne, was dem Leben erst Würde und Glanz verleiht. Darin stimmten Richard Wagner und Nietzsche überein, vorübergehend eng vereint im gemeinsamen Streben, nicht vor dem demokratischen Aufstand der Massen zu verzagen. Auch der Bürger mit seinem Gewinnstreben und seiner feilschenden Geschäftigkeit gehörte zu den Massenmenschen. Wagner und Nietzsche waren Kulturkritiker, besorgt um wahre Humanität. Deshalb vernachlässigten sie nie eine neue Religiosität oder sittliche Kräfte, inwieweit sie die nach dem Tode Gottes verursachte Leere füllen könnten.Mit solchen Überlegungen hatte Karl Marx nichts zu tun. Es blieb recht unbestimmt, wie er sich den verwirklichten Sozialismus und die dort mögliche Freiheit vorstellte. Die Umbrüche, vom Kapitalismus und der von ihm gelenkten Bourgeoisie bewirkt und beschleunigt, begrüßte er, weil sie sich im Einklang mit den Notwendigkeiten und der historischen Vernunft befanden. Im Kommunistischen Manifest stimmte er gemeinsam mit Friedrich Engels den Preisgesang auf dauernden Fortschritt durch Verwissenschaftlichung und Technisierung an, der indessen sämtliche Grenzen überschritten hatte und keine Beschränkungen duldete, was auch hieß, daß der neue Mensch völlig frei von Traditionen, Herkunft und vertrauten Gewohnheiten werden müsse, um ganz und gar zum Ausdruck einer Moderne zu werden, die sich in dauernder Werdelust zur jeweils allerneuesten Neuzeit selbst überholt. Es liegt auf der Hand, daß es unter solchen Voraussetzungen sehr schwerfällt, zu begründen, warum Nietzsche und Wagner zusammen mit Marx ein Trio von besonderer Bedeutung bilden.

Alle drei sind weltberühmt geworden. Richard Wagner zuerst. Der wagnerisme wurde als ästhetische Erneuerungsbewegung von Franzosen zu einer Weltmacht erhoben, die hofften, mit dem Gesamtkunstwerk, mit einem neuen Mythos und der Musik der Zukunft aus der Zerrissenheit der Zeit zu finden. Sie dachten an eine weitere Renaissance, an eine Wiedergeburt und einen Wiederaufschwung des Menschen in einem Staat, der nicht mehr als Maschine und als lebensfeindliche Macht jeden Einzelnen und alle zusammen bedroht. Herfried Münkler sieht in jedem Zweifel am „Projekt der Moderne“, dessen Meistersinger für ihn die immer beweglichen und lernfähigen Karl Marx und Friedrich Engels sind, ein Zeichen mangelnder Aufklärung und Rückwärtsgewandtheit. Freilich ist die Aufklärung eine Fiktion, weil sehr unterschiedliche Aufklärer nebeneinander wirkten und sich gar nicht darüber einig waren, was Aufklärung meint oder bedeuten soll. Friedrich Nietzsche fand hingegen: „Wagner resümiert die Modernität.“

Nichts war so zeitgemäß wie das Unbehagen an der Gegenwart, an einer Welt des Komfort und des Nutzens, die sich nur noch ökonomisch rechtfertigte, und den Wettbewerb, Wachstumsraten und  ständige Innovation für nahezu heilige Retter aus aller Not verklärte. Die unruhige Jugend im Europa um 1900 wandte sich Wagner und Nietzsche zu, um mitten in den moralischen Zusammenbrüchen und einer alles umfassenden kulturellen Krise hinter den Rücken des Geldwesens zu gelangen. Karl Marx reduzierte alles auf Geld, Kapital und Ökonomie. Das war zu wenig. Heute ist Karl Marx vor allem, auch für Münkler, der Prophet der Globalisierung und Unifizierung. Wer diese Entwicklung  als Gefahr wahrnimmt, wird von Marx wenig Rat erhalten, aber von Wagner und Nietzsche nicht enttäuscht werden.

Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch. Rowohlt Verlag, Berlin 2021, gebunden, 718 Seiten, 34 Euro

Fotos: Karl Marx: Preisgesang auf dauernden Fortschritt durch Verwissenschaftlichung und Technisierung; Richard Wagner (l.) und Friedrich Nietzsche: Nur ein sittlich erneuerter Mensch kann zu einer gerechten Ordnung der Freien gelangen