© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Die löchrige Blut-Hirn-Schranke
Forscher diskutieren Alternativen zur Alzheimer-Hypothese der genetisch bedingten Demenz
Jan Geschke

Nach WHO-Schätzungen leiden etwa 50 Millionen Menschen weltweit an Demenz. Bestätige sich der Trend des vergangenen Jahrzehnts, werden bis zum Jahr 2030 alljährlich weitere zehn Millionen Fälle neu diagnostiziert, so die UN-Gesundheitsbehörde. Häufigste Demenz-Ursache ist die nach ihrem Entdecker Alois Alzheimer (1864–1915) benannte Krankheit. Doch die Milliardensummen, die seit der Jahrtausendwende in ihre Erforschung geflossen sind, haben keinen „Durchbruch“ hin zu einer wirksamen Therapie gebracht.

Nichts führt daher an der nüchternen Bilanz der Systembiologin Daniela Kaufer (University of California) und des Epilepsie-Forschers Alon Friedman (Dalhousie University, Kanada) vorbei: „Bislang verstehen Neurowissenschaftler kaum, welche Faktoren zum allmählichen Leistungsverlust des Gehirns beitragen.“ Daher gebe es bis heute kein Medikament, das die Krankheit aufhalten oder wesentlich verlangsamen könnte (Gehirn & Geist,11/21). Dem verzagt klingenden „kaum“ von Kaufer und Friedman setzt das Gros ihrer Kollegen aus Hirnforschung und Genetik allerdings entgegen, daß es gelungen sei, die komplexen Ursachen und Abläufe der Krankheit besser zu verstehen.

Verlust der Hirnleistung und Auslöschung der Persönlichkeit

Sie konzentrierten ihre Forschungen auf die von Alzheimer ins Zentrum seiner Untersuchungen gerückten, markanten Eiweißablagerungen an den Nervenzellen des menschlichen Gehirns. Diese Verklumpungen – „Plaques“ aus kurzkettigen Beta-Amyloid-Proteinen – seien es, die die schleichende Zerstörung bewirkten. In ähnlicher Weise zum langfristigen Zelltod führen fehlgefaltete Tau-Proteine in den Neuronen, die sich bei Alzheimer-Patienten in kleineren Mengen zudem in Axonen, signalleitenden Fortsetzungen der Nervenzellen, finden.

Zum gesicherten Wissen zählt ferner, so wie es die Neurologen Jason Ulrich (Washington University, St. Louis) und David M. Holtzman (Hope Center for Neurological Disorders, Washington) in ihrem instruktiven Überblick über Fortschritte und Frustrationen der Alzheimer-Forschung schildern, daß die Erkrankung in zwei Stadien verläuft. Zunächst in einer bis zu 25 Jahre dauernden symptomfreien Phase, während der sich Amyloid in der Hirnrinde ablagert, ohne kognitive Leistungen zu mindern. Erst in der zweiten Phase, zumeist im siebenten Lebensjahrzehnt beginnend, entwickeln sich dann Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen und es kommt zur Neurodegeneration, die im fortgeschrittenen Stadium in den vollständigen Verlust der Hirnleistung und in die Auslöschung der Persönlichkeit mündet.

Warum bilden sich bei einer stattlichen Minderheit „Plaques“ im Hirn, bei einer insoweit glücklichen Mehrheit der Menschen aber nicht? Weil, was ebenfalls seit langem erforscht ist, genetische Faktoren das Erkrankungsrisiko beeinflussen. Über die Verbindung zwischen dem wichtigsten der beteiligten Gene, dem APOE-Gen, das den Bauplan für das am Cholesterinstoffwechsel Apolipoprotein E liefert, und Morbus Alzheimer lag bereits 1993 eine valide Studie vor. 2013 stieß man bei der Sequenzierung des Erbguts von Alzheimer-Patienten auf eine Version des Gens Trem2, eine Mutation, die die Funktion von Immunzellen des Typs Mikroglia außer Kraft setzt. Statt Krankheitserreger zu bekämpfen und verletztes Gewebe zu reparieren, greifen derart dysfunktionale Mikrogliazellen Neurone und ihre Synapsen an, stören die Signalübertragung entlang der Axone und stimulieren die Anhäufung von Tau-Bündeln, wie Ulrich und Holtzman in ihren Experimenten mit Mäusen nachgewiesen haben.

Das disziplinär dominierende Paradigma, dem auch die Studien von Ulrich und Holtzman gehorchen, orientiert sich an der Frage: „Wie lassen sich die typischen Proteinansammlungen verhindern?“ Und antwortet darauf: Durch Neutralisierung von „Risikogenen“ wie Trem2. Mit der Konsequenz, nach Wirkstoffen fahnden zu müssen, die mutierte Mikroglia-Gene so blockieren, daß sie keine Eiweiß-Verklumpungen mehr auslösen.

Kaufer und Friedman schlagen hingegen vor, zur „lange vorherrschenden Hypothese, Proteinablagerungen verursachen Alzheimer“, auf kritische Distanz zu gehen. Dafür liefert ihnen ausgerechnet die im Juni getroffene Entscheidung der US-Arzneimittelbehörde FDA, das Medikament Aducanumab für die Alzheimer-Therapie zuzulassen, eine gute Begründung. Soll das Mittel doch nur den Abbau von Beta-Amyloid im Gehirn beschleunigen. Unklar bleibt indes, wie gut es den Verlust kognitiver Fähigkeiten bremst. Somit offenbart gerade diese Zulassung die Malaise zahlreicher älterer Experimente, denen es zwar gelungen ist, die Konzentration von Proteinen im Hirn, mitunter sogar deutlich, zu reduzieren, die aber den Fortgang des geistigen Verfalls nicht stoppen konnten.

Vor allem aus Mangel an Behandlungsmöglichkeiten fordern Kaufer und Friedman daher, verstärkt alternative Erklärungen zur Beta-Amyloid-Hypothese in Betracht zu ziehen. „Eine defekte Blut-Hirn-Schranke (BHS), die nachweislich eine Reihe von krank machenden Prozessen im Gehirn in Gang setzt, wäre eine davon.“

Die BHS ist ein selektiver Filter in den Blutgefäßwänden, die im Gehirn aus dicht an dicht liegenden Zellen mit spezialisierten Transportsystemen bestehen, die bestimmte Substanzen passieren lassen, darunter Moleküle wie Sauerstoff und Glukose, von denen sich die Hirnzellen ernähren. Dagegen wird der Eintritt von Blutproteinen, Zellen des Immunsystems und Krankheitserregern blockiert. Die Filterfunktion der BHS erstreckt sich über die Blutgefäße der meisten Bereiche des Gehirns, von den äußeren Schichten der Hirnrinde, wo höhere Denkleistungen stattfinden, bis zu tiefer gelegenen Schaltstellen wie dem Hippocampus, der das Speichern von Gedächtnisinhalten steuert.

Gefährliche „Lecks im Hirnschutzfilter“?

In den 1990er Jahren, als Kaufer und Friedman in Israel kognitive Leistungseinbußen bei Golfkriegsveteranen analysierten, fielen ihnen in deren Gehirnen Spuren eines zum Schutz vor chemischen Kampfstoffen verabfolgten Medikaments auf, das die BHS eigentlich nicht hätte überwinden dürfen. Gleichzeitig wurde dieser Nachweis von „Lecks im Hirnschutzfilter“ von anderen Hirnforschern bestätigt. Nach 20jähriger Erfahrung mit Mäuse-Experimenten sind sich die beiden Neurowissenschaftler heute sicher, daß ins Gehirn eingedrungenes Albumin, eine der häufigsten Blutproteine, dort an einen Rezeptor auf der Oberfläche der Mikrogliazellen anbindet und das Signalmolekül TGB (Transformig Growth Factor beta) freisetzt.

Das wiederum eine Kettenreaktion startet, die entzündliche, Neuronen schädigende und kognitive Fähigkeiten reduzierende Prozesse auslöst, wie sie typisch sind für das Alzheimer-Krankheitsbild. Da die „Löchrigkeit“ der BHS in der Regel mit fortschreitendem Alter zunimmt, steigt das Risiko, daß Albumin diese hochselektive Barriere überwindet. Therapeutisch wäre also eher als den genetischen Dispositionen für die Plaque-Bildung mehr Aufmerksamkeit den TGB-Aktivitäten zu widmen, die es medikamentös gezielt zu blockieren gelte.

Gehirn & Geist, 11/21: spektrum.de

Alzheimer Forschung Initiative e.V.: www.alzheimer-forschung.de