© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Raum um Raum durchschreiten
Christian Vollradt

Daß jedem Anfang ein Zauber innewohne, ist eine vielzitierte Behauptung, die allerdings auch dann nicht immer zutreffend sein muß, nur weil sie Hermann Hesse einst so lyrisch in die Welt gesetzt hat. Im Bundestag jedenfalls wohnt für manchen dem Anfang dieser noch recht jungen 20. Legislaturperiode nicht viel Zauber, sondern eine ganze Menge Aufwand und Widrigkeiten, zuweilen sogar berufliche Sorgen inne.

Um mit den ganz profanen Dingen zu beginnen, wie etwa der Raumfrage. Insgesamt ist das Parlament erneut gewachsen, worüber an dieser Stelle schon häufiger berichtete wurde. Drei Fraktionen haben sich im Vergleich zur 19. Legislaturperiode vergrößert, drei schrumpften. Die SPD wuchs von 152 auf 206 Abgeordneten, die Grünen von 67 auf 118 und die FDP immerhin von 80 auf 92. Dagegen hat die Union jetzt 197 statt wie vor der Wahl im September 245 Abgeordnete. Bei der AfD, die bereits während der vergangenen Legislaturperiode einige Abgänge zu verzeichnen hatte, fielen die Verluste relativ moderat aus: 82 statt 87. Harte personelle Einschnitte gab es bei der Linksfraktion, die dank dreier Direktmandate immerhin mit 39 (statt wie zuvor mit 69) Mandatsträgern vertreten ist.

Die Folge also: Verdrängung. Die Verlierer müssen Büros räumen und an die Sieger abtreten. Dabei bleibt es zunächst einmal den Fraktionen überlassen, wer weichen muß und wer nicht. Denn natürlich gibt es auch hier eine gewisse Hackordnung – und nicht jeder kann seinen Anspruch auf Räumlichkeiten in A-Lage verwirklichen. Besonders begehrt sind die dem Reichstagsgebäude am nächsten liegenden Bürotrakte. Wer also Pech hat, könnte demnächst den Blick auf die Wallotsche Prachtfassade eintauschen gegen die Aussicht auf einen Innenhof in der Schadowstraße. Jene, die Unter den Linden residieren, haben zwar eine repräsentative Adresse, doch die Plenarsitzungen sind von dort aus nicht mehr trockenen Fußes durch die Tunnel erreichbar. Und wer künftig nicht mehr Vorsitzender eines Bundestagsausschusses ist, muß sich von seinem geräumigen Büro im Paul-Löbe-Haus trennen. Immerhin darf Alexander Gauland als Ehrenvorsitzender der AfD-Fraktion sein großes Zimmer mit der schönen Aussicht auf das Ostportal des Reichstags behalten. 

Luxussorgen sind das für diejenigen, deren berufliche Zukunft auf dem Spiel steht, etwa die Fraktionsreferenten. Weniger Abgeordnete bedeutet weniger Geld und damit auch weniger Posten. Der Sparzwang hat für manchen einen Jobwechsel zur Folge. Anders als die Mitarbeiter eines Abgeordneten, der den Wiedereinzug verpaßte, wußten die Angestellten der Fraktion ja noch nicht gleich am Wahlabend, daß ihnen ein ähnliches Schicksal blüht. Aus der Unionsfraktion ist zu hören, es werde im kommenden Frühjahr einen Kassensturz geben. Dann könnte ein weiterer Personalabbau drohen. Einige Mitarbeiter, die zum Beispiel als Beamte ein Rückkehrrecht in ein Ministerium haben, sollen schon aufgefordert worden sein, dieses in Anspruch zu nehmen. Das ist kein Beinbruch (andere trifft es härter), aber ein Zauber ist es eben auch nicht.