© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Präsident Joe Biden gibt Teile der strategischen US-Ölreserven frei
Tropfen auf den heißen Stein
Thomas Kirchner

So würde Öl ins Klimafeuer gegossen, fürchten Klimaaktivisten angesichts des Teilverkaufs der strategischen US-Ölreserven durch Joe Biden. Doch handelt es sich eher um einen Tropfen auf den heißen Stein. Von den 50 Millionen Faß (Barrel/159 Liter), die auf mehrere Monate verteilt verkauft werden, waren 18 Millionen schon vom Kongreß freigegeben worden. Bei einem Tagesverbrauch von 20 Millionen Faß in den USA und 100 Millionen weltweit reicht dies nicht, die Benzinpreise nachhaltig zu beeinflussen. Denn die Probleme liegen tiefer. Die Kurse von Terminkontrakten (Futures) zeigen, wie eng der Ölmarkt ist.

Normalerweise kosten Futures für Öllieferungen in einem Jahr etwa einen Dollar mehr als die für baldige Lieferung, denn in dem Preisaufschlag werden die Lagerkosten eingerechnet. Nun ist es umgekehrt: Die sofortige Lieferung kostet drei bis fünf Dollar mehr als eine Lieferung Ende 2022. Wer mit der Abnahme bis 2025 warten kann, zahlte statt 75 nur 60 Dollar pro Faß. „Backwardation“ heißt dies im Finanzjargon. Mit dem Rückgang des Ölpreises Ende November schrumpfte die Preisdifferenz, liegt aber immer noch invers. Die Biden-Aktion hätte also durchaus das Potential, den Spritpreis zu senken und den Autofahrerzorn zu besänftigen. Doch dazu hätte das Öl schnell in den Markt gemußt, nicht über Monate verteilt. 4,4 Millionen Barrel pro Tag wären technisch machbar. Bis es dann durch die Produktionskette als Benzin in den Tank kommt, vergehen zwei Wochen. Um die Tankstellenpreise langfristig niedrig zu halten, müßte die Nachfrage stabil bleiben oder die Ölförderung steigen.

Beides ist derzeit nicht abzusehen. Auch wenn weitere Länder dem US-Beispiel folgen und Reserven freigeben, bleibt die Wirkung begrenzt und kurzfristig. Damit ein niedrigerer Rohölpreis beim Verbraucher ankommt, müssen außerdem Angebot und Nachfrage nach Benzin und Diesel in Balance zueinander stehen. US-Verbraucher kauften in diesem Jahr Hundertausende SUVs mehr als 2020. Raffinerien standen zeitweise wetterbedingt still. Hohe Nachfrage bei begrenzter Produktionskapazität gibt es auch bei Benzin. Wer Benzin erst im Dezember 2022 braucht, bekommt es trotz einem Jahr Lagerkosten zehn Prozent billiger. Für einen niedrigen Rohölpreis müßten Förderkapazitäten erhöht werden. Doch die Organisation erdölexportierender Länder plus Rußland, Kasachstan und Mexiko (OPEC+) hat klargestellt, Öl nicht billiger zu verkaufen (JF 45/21).

Auf Bidens Freigabe reagierte OPEC+ mit der Warnung, Förderquoten zu reduzieren. Sollte es erneut zu Corona-Lockdowns kommen, dürfte OPEC+ im Gegensatz zu 2020 das Angebot verknappen. Denn das Ziel, mit niedrigen Preisen die US-Frackingbranche in die Schranken zu weisen, hat OPEC schon 2020 erreicht. Jetzt geht es um Gewinnmaximierung. Waren Fördermengen meist ein Streitpunkt unter den OPEC-Staaten, scheint derzeit Einigkeit zu herrschen. Die Fronten haben sich vom Geschwisterzwist zur Konfrontation mit den Verbraucherländern verlagert. Die Reserven müssen irgendwann wieder aufgefüllt werden. Biden könnte die „Backwardation“ ausnutzen und das Öl, das er jetzt teuer verkauft, mit längerfristigen Futures „zurückkaufen“ und so US-Lager weit billiger wieder auffüllen. Die Bundesregierung könnte mit ihrer Corona-Krisen-Beteiligung an der Lufthansa sogar eine Milliarde Euro verdienen – wenn das große Aktienpaket langsam und geschickt plaziert wird.