© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

„Völlig inakzeptabler Zustand“
Energiepolitik: Deutschland steht mit seinem Doppelausstieg aus Kohle und Kernkraft allein da
Albrecht Rothacher / Jörg Fischer

Die künftige Bundesregierung verspricht den massiven Ausbau von Wind- und Solarenergie und „die Errichtung moderner Gaskraftwerke“. Der „beschleunigte Ausstieg aus der Kohleverstromung“ solle „idealerweise“ bis 2030 erfolgen. Und „am deutschen Atomausstieg halten wir fest“, heißt es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Gleichzeitig bekennen sich die Ampel-Partner „zu einer weiteren Integration des europäischen Energiebinnenmarktes“. In Brüssel oder Paris wird über solche Naivität aber nur der Kopf geschüttelt.

„Wir müssen die Kapazität der Stromproduktion in Europa innerhalb der nächsten 30 Jahre verdoppeln“, warnte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton im Handelsblatt. Zwar sei es besser, Strom mit Gas als mit Kohle zu erzeugen, aber eine stabile Stromversorgung ohne Atomkraft zu sichern sei „unmöglich“, so der Elektroingenieur. „Ich glaube, jeder versteht das“, denn 26 Prozent der EU-Energieversorgung „werden von Nuklearreaktoren gedeckt. Es ist schlicht nicht machbar, unsere Stromkapazitäten ohne Kernkraft zu verdoppeln“, so der frühere France-Télécom-Chef und ehemalige Wirtschaftsminister.

Der aktuelle Pariser Ressortchef Bruno Le Maire wurde noch deutlicher: „Wir haben über Jahrzehnte in die Kernenergie investiert. Das ist ein Teil der französischen Identität.“ Und im April sind Präsidentschaftswahlen. Emmanuel Macron will daher eine glorreiche französische EU-Präsidentschaft im kommenden Halbjahr – und keine Energiekrise. Dazu braucht es die Atomenergie. 71 Prozent des französichen Stroms werden atomar erzeugt. Das 1996 in Betrieb gegangene AKW Chooz B an der Grenze zu Belgien – nur 115 Kilometer von Aachen entfernt – ist mit seinen zwei Druckwasserreaktoren (DWR) und einer Gesamtleistung von 3.120 MW das größte der EU.

80 Prozent des Konzerns Électricité de France (EDF) sind in Staatsbesitz. 56 AKWs laufen, ihre Betriebsdauer wurde um zehn Jahre verlängert. Trotz etlicher Baupannen sollen sechs DWR neu gebaut werden. In Macrons „Plan France 2030“ sind zudem Mini-AKWs (Small Modular Reactor/SMR) vorgesehen. Amtskollege Joe Biden reagierte darauf mit der Ankündigung, die Firma NuScale Power aus Oregon werde in Rumänien den ersten amerikanischen SMR in der EU bauen und so 3.700 Arbeitsplätze in beiden Ländern schaffen.

Vielleicht ist aber die estnische Fermi Energia schneller, die mit Fortum (Finnland) und Tractebel (Belgien) den ersten SMR im Baltikum bauen will. Estland hat zwar enorme Ölschieferlagerstätten, doch die Ölverstromung gilt als Klimasünde. Zudem soll der Stromverbund BRELL (Belarus, Rußland, Estland, Lettland, Litauen) bis 2025 aufgelöst werden. Frankreich hat im Oktober zusammen mit neun EU-Ländern (Bulgarien, Kroatien, Finnland, Polen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, der Tschechei und Ungarn) eine Initiative gestartet, Kernkraft als „nachhaltige Investition“ anzuerkennen und in die „EU-Klimataxonomie“ aufzunehmen. Auch die Niederlande und Schweden unterstützen dies.

Es drohen eine riesige Stromlücke und regionale Abschaltungen

Wie wird die EU nun entscheiden? Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist Paris-hörig (JF 45/21). Der Begriff „Taxonomie“ kommt im Ampel-Koalitionsvertrag nicht vor – dafür mehrfach die „Errichtung moderner Gaskraftwerke“. Auch die meisten Ostländer sowie Malta und die potentiellen Erdgasförderländer Griechenland und Zypern präferieren Gas als Kohle-Alternative. Daher wird Atomenergie wohl Teil der EU-Klimataxonomie und Erdgas als „Übergangstechnologie“ ebenso. Sprich: Deutsche EU-Beiträge finanzieren dann indirekt anderswo AKWs. Nur wo das viele Erdgas zu bezahlbaren Preisen herkommen soll, ist aber unklar.

Die Lieferungen aus Norwegen sind begrenzt, die Niederlande wollen die Förderung im Gasgroßfeld Groningen beenden, Großbritannien exportiert weniger – doch nicht nur das treibt den Erdgaspreis. Für das teure Flüssiggas (LNG) aus arabischen Staaten fehlen LNG-Terminals und Transportschiffe. Das angeblich verfügbare LNG aus den USA wird lieber ans kaufkräftige Ostasien geliefert. Die sechs Mittelmeerpipelines aus Nordafrika reichen nur zur Versorgung Italiens, Spaniens und Portugals. Die im September fertiggestellte Ostseepipeline Nord Stream 2, die mehr Erdgas aus Rußland ins europäische Netz einspeisen soll, ist weiterhin blockiert.

Die Bundesnetzagentur zögert mit der Zertifizierung. SPD, Union, AfD und Linke sind für die Inbetriebnahme, Grüne und FDP dagegen – vor allem aus geostrategischen Gründen. Ähnlich argumentieren mit Blick auf Wladimir Putin auch Polen oder die baltischen Staaten. Auf Drängen von Republikanern im US-Senat sollen nun weitere Sanktionen gegen Personen, Firmen und Schiffe verhängt werden, die mit Erdgasleitung in Zusammenhang stehen. Dabei hatten Berlin und Washington im Juli ein Arrangement verkündet: Hilfe für die Ukraine, aber keine US-Totalblockade mehr.

Der Winter naht, drei deutsche AKWs gehen zum Jahresende vom Netz (JF 47/21). „In der vorletzten Woche hatte Deutschland beispielsweise 27 Prozent erneuerbaren Strom im Netz und 72 Prozent konventionell erzeugten. Selbst wenn in unserem Land dreimal mehr Windkraft installiert wäre, wüßte ich nicht, wie wir in einer solchen Woche ohne Kohle, Kernenergie und Erdgas auskommen würden“, warnte Leonhard Birnbaum, Chef des Essener Energiekonzerns Eon, vorige Woche im Handelsblatt. „Wir brauchen nicht nur im Durchschnitt eines Jahres genug Strom, sondern an jedem einzelnen Tag“, so der 54jährige Chemieingenieur.

Es drohe eine gigantische Stromlücke, denn hinzu komme eine „stark wachsende Nachfrage aus der Industrie, zum Beispiel durch Batterie- oder Chipfabriken und Rechenzentren“. Zu Gaskraftwerken sieht Birnbaum daher „kurzfristig keine Alternative“. Mit einem Blackout rechnet Eon, das die vom Netz gehenden AKW Brokdorf und Grohnde betreibt, aber nicht.

Sollte es zu wenig Strom geben, würden Verbraucher eben zeitweise vom Netz getrennt – „Lastmanagement“ nennt das die Ampelkoalition: „Bevor die Lichter überall ausgehen, schalten wir sie nur in einer Stadt aus. Das wäre natürlich auch ein völlig inakzeptabler Zustand, aber beherrschbar“, glaubt der Eon-Chef. Und auch mit Blick auf die gestiegenen Energiepreise wäre es daher „gut, wenn der Winter warm wird“.

Foto: Neue Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 2: Die Ampelkoalition will mehr moderne Gaskraftwerke errichten lassen