© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Die totale Selbstaufgabe zugemutet
Zeitgeschichte in Literatur verpackt: Fridolin Schleys Roman über Ernst von Weizsäcker und die Nürnberger Prozesse
Thorsten Hinz

Fridolin Schleys Roman „Die Verteidigung“ handelt von einem historischen Moment, in dem das alte Deutschland verabschiedet wird und die neue Bundesrepublik sich umrißhaft abzuzeichnen beginnt. Der Moment ist der Wilhelmstraßenprozeß, der 1948/49 im Nürnberger Justizpalast stattfand. Vor dem US-Gericht standen führende Beamte aus der Ministerialbürokratie der Berliner Wilhelmstraße –  das Metonym für das ehemalige Regierungsviertel der alten Reichshauptstadt.

Prominentester Angeklagter war der Diplomat Ernst von Weizsäcker, Sproß einer Beamten- und Gelehrtenfamilie, Sohn eines württembergischen Ministerpräsidenten, den der König 1916 in den erblichen Adelsstand erhoben hatte. Ab 1933 war Weizsäcker Gesandter in Norwegen und der Schweiz gewesen, 1938 ernannte ihn Ribbentrop zu seinem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, 1943 wechselte er als Botschafter zum Heiligen Stuhl. In Nürnberg betrafen ihn alle acht Anklagepunkte, darunter Verschwörung gegen den Frieden, Planung von Angriffskriegen sowie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Sein Verteidiger war der junge Rechtsanwalt Hellmut Becker, Sohn eines preußischen Kultusministers. Als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung wurde er später zum „Bildungs-Becker“, zum einflußreichsten Bildungspolitiker der Bundesrepublik. Im Prozeß assistierte ihm der Jurastudent und Weizsäcker-Sohn Richard, der 35 Jahre später zum Bundespräsidenten gewählt wurde und 1985 in einer vielzitierten Rede den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ proklamierte. Zudem behauptete er eine stillschweigende, kollektive Mitwisserschaft der Deutschen am Holocaust, womit er den Vorwurf auf sich zog, durch pharisäische Bußfertigkeit den Familiennamen exkulpieren zu wollen.

Ankläger war Robert Kempner, der während der Weimarer Zeit Beamter im Preußischen Innenministerium gewesen war. 1933 hatten die Nationalsozialisten ihn wegen politischer Unzuverlässigkeit aus dem Staatsdienst  entfernt. Als Jude zusätzlich gefährdet, ging er schließlich wie sein Bruder Walter in die USA. Der Arzt Walter Kempner hatte zum Kreis um Stefan George gehört und den Dichter medizinisch betreut. Das ergab eine delikate Konstellation im Prozeß, weil auch die Familien Becker und Weizsäcker zu den Georgianern zählten. Richard berichtete in seinen Memoiren, daß sein älterer Bruder, der spätere Atomphysiker Carl Friedrich, ihn als Kind zu einer exklusiven Dichter-Lesung mitgenommen hatte. Bei der Gelegenheit hatte ihm George die Hand in den Nacken gelegt, was sich ihm als verpflichtende Segnungsgeste einprägte.

Für Robert Kempner personifizierte Ernst von Weizsäcker das Versagen der traditionellen deutschen Eliten und deren Mitschuld am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Für die Verteidigung verhielt es sich genau umgekehrt: Sie stellte Weizsäcker als Beispiel für das verzweifelte – und leider vergebliche – Bemühen dar, durch verdeckten Widerstand dem braunen Unheil zu wehren. Den Beteiligten war klar, daß das Urteil nicht nur über die Person, sondern über den Ruf des Auswärtigen Amtes, ja der deutschen Ministerialbürokratie überhaupt und damit über deren künftige Verwendbarkeit entscheiden würde. Entsprechend groß war der Aufwand, den die Verteidigung inner- und außerhalb des Gerichtssaals betrieb.

Zum Verhängnis wurde dem Angeklagten ein Schriftstück vom März 1942, das die Antwort auf eine Anfrage Adolf Eichmanns aus dem Reichssicherheitshauptamt enthielt, ob gegen die Deportation von 6.000 französischen und staatenlosen Juden nach Auschwitz Bedenken bestünden. Das Auswärtige Amt besaß in der Frage kein materielles Prüfungsrecht, es konnte allenfalls formelle Gründe geltend machen. Die waren offenbar nicht gegeben, weshalb der Referentenentwurf „keine Bedenken“ erhob. Weizsäcker ersetzte die Formulierung, die indirekt auch eine moralische Unbedenklichkeit nahezulegte, durch „keine Einwände“, womit das Placet ausschließlich die technisch-administrative Ebene betraf. Diese gewiß moralisch begründete, semantische Verschiebung änderte am Schicksal der Unglücklichen natürlich nicht das geringste. Nur 180 der 6.000 Deportierten erlebten das Kriegsende.

Seit seinem Eintritt in den diplomatischen Dienst war die Revision des Versailler Vertrags für Weizsäcker das wichtigste Ziel gewesen. Daher war er mit der Remilitarisierung des Rheinlands, dem Anschluß Österreichs und des Sudetenlandes einverstanden. Jedoch sollte die Revision im Einvernehmen mit den Westmächten erfolgen. Die Politik Hitlers, der das Ausland handstreichartig vor vollendete Tatsachen stellte, hielt er für lebensgefährlich. Der Historiker und ehemalige FAZ-Redakteur Rainer A. Blasius brachte das Anliegen Weizsäckers auf die Formel: „Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg“.

Er habe den Krieg verhindern und, nachdem er ausgebrochen war, nach Friedensmöglichkeiten Ausschau halten wollen, begründete er seine Tätigkeit in der Wilhelmstraße. Das Mitwissen um Verbrechen und ihre ohnmächtige Hinnahme seien der Preis für die selbstgestellte Aufgabe gewesen. Intern gab er in bezug auf judenfeindliche Maßnahmen des Regimes die Anweisung, das Auswärtige Amt solle sich „auf die allgemeine Feststellung beschränken, daß die jeweils mildere der zur Diskussion stehenden Lösungen vom außenpolitischen Gesichtspunkt aus den Vorzug verdient ...“ Seine Versetzung in den Vatikan im Juni 1943 muß er als Erlösung empfunden haben. Dort versuchte er bis in die letzten Kriegswochen vergeblich, die Kurie zu Vermittlungsversuchen zu veranlassen.

Die ungefähre Kenntnis der skizzierten Gemengelage ist für das Verständnis und die Einschätzung des Romans unumgänglich. Fridolin Schley (Jahrgang 1976) interessieren die Gründe, warum der so wortmächtige und bekenntnisfreudige Richard von Weizsäcker, sobald er über das Wirken seines Vaters im Dritten Reich befragt wurde, ins Stammeln verfiel und sich über seine Empfindungen während des Prozesses kaum äußerte, andererseits aber mit Nachdruck bekundete, daß die Anklage und die Verurteilung falsch waren. Schley versucht, die äußere Diskrepanz als inneren Konflikt auf seinen Ursprung zurückzuführen. Der Sohn ringt um sein Verhältnis zum Vater. Der Prozeß gibt ihm Gelegenheit, den einst Vielbeschäftigten überhaupt erst näher kennenzulernen und die starren Formalien bürgerlicher Familienetikette zu durchbrechen. Natürlich geht es ihm auch um die Familienehre. Er bewundert den offensiven Stil, mit dem Becker die Verteidigung führt, und hat doch zunehmend Zweifel, ob diese Strategie der Sach- und Aktenlage in moralischer Hinsicht gerecht wird.

Sämtliche großen Medien haben das Buch hoch gelobt. Sie hoben Schleys Gespür für den historischen Kontext, seinen Verzicht auf das moralische Auftrumpfen des Nachgeborenen und die Intensität des inneren Zwiegesprächs hervor. Tatsächlich ist der Autor ein feinnerviger Psychologe, der atmosphärische Schattierungen eindrucksvoll schildern und assoziative Bögen schlagen kann. Er betritt das verminte Gelände der NS-Deutung und -politik und mißt aus, wieviel künstlerische Freiheit einem Künstler auf diesem Feld bleibt. Er läßt Per Leos thematisch vergleichbaren, gschichtshermeneutisch konventionellen Roman „Flut und Boden“ („Wenn der Großvater ein SS-Mann war“, JF 22/14) klar hinter sich.

In Personenreden oder inneren Monologen tauchen sogar Begriffe wie „Siegerjustiz“ und „Kollektivstrafe“ auf. „Eine ganze gesellschaftliche Schicht soll ausgeschaltet werden, um dem Volk seine Führung zu nehmen.“ Auch „Roosevelts undiplomatischer Appell“ wird erwähnt. Nur dürften die wenigsten wissen, daß es um die öffentliche Aufforderung des US-Präsidenten an Hitler und Mussolini vom April 1939 geht, sie sollten sich verpflichten, mehr als 30 namentlich aufgeführte Länder nicht anzugreifen, darunter ironischerweise solche, die „von den militärischen Kräften demokratischer Staaten besetzt gehalten und damit rechtlos gemacht sind“, wie Hitler in seiner Erwiderung im Reichstag höhnisch bemerkte. Roosevelts eigentliches Ziel aber hatte laut Henry Kissinger darin bestanden, die Diktatoren vor den Augen des amerikanischen Publikums „als Aggressoren zu brandmarken“, sie als künftige Feinde zu markieren.

Schley hat Akten und viel historische Literatur studiert (oder studieren lassen) und im Anhang fairerweise vermerkt, an welchen Stellen er sich worauf bezogen hat. Auch der 2012 erschienene „Weizsäcker-Komplex“ des Rezensenten ist darunter. Er zitiert aus den Gefängnisnotizen Weizsäckers für die Verteidigung. Die Angewohnheit des Vaters, von sich in der dritten Person zu schreiben und das „Ich“ zu vermeiden, läßt Richard schlußfolgern, „dieses Ich existiere gar nicht, sondern sei nur eine Beschwörung, ein Wort mit drei Buchstaben, das den Vater von den anderen abschottet, Wörtern wie: Schuld. Es befreit ihn. Von sich.“

Das ist dann doch eine sehr nachträgliche, reichlich schlaumeiernde Betrachtungsweise. Treffender wäre: Er befreit sich von dem Objekt, das der Prozeß aus ihm macht und in dem er sich nicht wiedererkennt. Spätestens an der Stelle merkt man, daß Schleys Vorhaben, den deutschen Schlüsselmoment als Vater-Sohn-Konflikt, als Familienaufstellung und im Modus der Schuldreflexion zu erzählen, nicht aufgeht. Anders als in Dostojewskis „Schuld und Sühne“ treffen in Nürnberg kein göttliches und irdisches Gesetz zusammen, um den Delinquenten zur Einsicht zu führen. Es handelt sich eben doch um Siegerjustiz, in der Ankläger und Richter identisch sind und über die Macht verfügen, das absolute Recht für sich reklamieren.

Ernst von Weizsäcker hat in seinen „Erinnerungen“, die Richard 1950 herausgab, seine Position zur Anklage so beschrieben: „Im ganzen ging das Judenproblem für mich in dem größeren allgemeinen Problem auf: wie kommen wir am schnellsten zu einem Frieden ohne Hitler?“ Anders sei den Juden und den anderen Verfolgten nicht zu helfen gewesen. Das Pochen der Alliierten auf „bedingungslose Kapitulation“ aber hieß für Deutschland „nichts anderes, als im Volk jede Friedensneigung ersticken, die Oppositionellen entmutigen und Dr. Goebbels ein unschätzbares Schlagwort liefern“. Damit wurde den Deutschen die totale Selbstaufgabe zugemutet, denn „wer dem Sieg der Alliierten sich nicht mit Haut und Haaren verschrieb, der ist heute in den Augen vieler ein Komplice des Regimes geworden“. Es muß eine tiefe Demütigung für ihn bedeutet haben, selbst vom Deutschen-Hasser Robert Vansittart ein Führungszeugnis erbitten zu müssen, was dieser – wie im Roman kommentarlos vermerkt ist – prompt verweigerte.

„Was wir im deutschen Widerstand während des Krieges nicht wirklich begreifen wollten, haben wir nachträglich vollends gelernt: Daß der Krieg schließlich nicht gegen Hitler, sondern gegen Deutschland geführt wurde“, schrieb der nachmalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, der den Prozß vor dem Volksgerichtshof mit viel Glück überlebt hatte. Ähnlich die greise Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, die den Wilhelmstraßenprozeß publizistisch begleitet und für Ernst von Weizsäcker vehement Partei ergriffen hatte. Ihrer Biographin Alice Schwarzer sagte sie, den Alliierten sei es „nicht um Recht und Unrecht gegangen, sondern um Macht! Sie wollten die totale Erniedrigung und Unterwerfung Deutschlands, darum durfte es keinen deutschen Widerstand geben.“ Richards Memoirenbuch „Vier Zeiten“ enthält zarte Andeutungen, daß er das ganz ähnlich sah. Es offen auszusprechen aber hätte das Ende seiner Karriere und gesellschaftlichen Reputation bedeutet. Daher sein Schwanken zwischen wortreichem Pharisäertum und ausweichendem Gestammel.

Fridolin Schley hat den Raum des Gerade-noch-Sagbaren voll ausgeschritten und darüber hinaus ein wenig zu dehnen versucht. Sein Buch ist achtbar, aber die hymnischen Besprechungen sind übertrieben. Handelt es sich überhaupt um einen Roman oder nicht eher um ein – nicht ganz geglücktes – Zwischending aus Belletristik und historischem Essay? Nicht ganz geglückt heißt beispielsweise: Es werden Namen eingestreut, die sich nur Lesern erschließen, die über historische Spezialkenntnisse verfügen. Für alle anderen bleiben sie Schall und Rauch, denn als Romanfiguren besitzen sie kein Eigenleben.

Ein abschließender Gedanke: Wenn dieser Abschnitt der deutschen Geschichte auf absehbare Zeit weder im Stil von Tolstoi noch Dostojewski angemessen erzählt werden kann, dann vielleicht in der surrealen Weise von Bulgakows „Meister und Margarita“?

Fridolin Schley: Die Verteidigung. Roman. Hanser Verlag, Berlin 2021, gebunden, 272 Seiten, 24 Euro

Foto: Angeklagter Ernst von Weizsäcker im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozeß, 1948