© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Ein Amerikaner in seiner Moskauer Heimat
Literatur: Der Roman „Ein schreckliches Land“ zeigt ein Panorama der heutigen russischen Gesellschaft
Filip Gaspar

Ein russischer Kuß ist besser und intensiver als ein amerikanischer. Zumindest empfindet das die Hauptfigur Andrej Kaplan aus dem neuen Roman „Ein schreckliches Land“ von Keith Gessen so. Doch um Sonja, sein russisches Date, noch mit in ihre Wohnung zu begleiten, bittet sie ihn um eine „Reinigungsgebühr“. Andrej ist zurück in seiner Geburtsstadt Moskau. Diese verließ er 1981 zusammen mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder Dima Richtung USA. Die Kaplans sind säkulare aschkenasische Juden, was jedoch nur eine kleine Rolle in der Handlung spielt. Andrej, der bei der Auswanderung erst sechs Jahre jung war, im Gegensatz zu seinem Bruder Dima, der schon 16 Jahre alt war, wird zu Andrew, einem Amerikaner. Er fristet das Dasein eines erfolglosen Dozenten für russische Literatur und lebt eher in bescheidenen Verhältnissen.  

Sein Bruder Dima ist das genaue Gegenteil. Er blieb immer ein Russe, ging kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurück nach Moskau, um ein Vermögen mit mal legalen und mal weniger legalen Geschäften zu machen. Genau ein solch halb legales Geschäft zuviel zwingt ihn dazu, aufs schnellste das Land zu verlassen. Das Problem ist nur, daß sich jemand um die immer stärker an Demenz leidende Großmutter Sewa kümmern muß. Das kommt Andrej ganz gelegen, denn er ist gerade von seiner Freundin verlassen worden, und seine Pläne, eine Professur zu ergattern, sind auch ins Stocken geraten. Sein letzter Aufenthalt in Moskau ist über zehn Jahre her. Die Stadt und vor allem die Gegend um den Boulevard-Ring, wo Großmutter Sewas Wohnung liegt, ist kaum wiederzuerkennen. Das postsowjetische Rußland samt seiner Hauptstadt hat sich stark verändert und ist nicht mehr das Moskau aus Andrejs Kindheit.

Für die Russen bleibt er ein Westler

Die Geschichte von Andrej Kaplan weist Parallelen zum Leben des Autors Gessen auf. Dieser ist selbst in jungen Jahren zusammen mit seinen Eltern in die USA ausgewandert. Doch aller Anfang ist nicht leicht. Für die Russen ist und bleibt Andrej Andrew, ein Westler, der weder Land noch Mentalität versteht. Seine Unsicherheit äußert sich nach seiner Ankunft auch darin, daß er nicht weiß, ob er neue Bekanntschaften mit „Wy“, Sie, oder mit „ty“, du, ansprechen soll. Selbst als säkularer, nicht praktizierender Jude bleibt er in den Augen der Russen immer noch ein Jude.

Seine Großmutter hat ihre Wohnung von Stalin geschenkt bekommen. Diese befindet sich direkt gegenüber vom Geheimdienst und hat zu Andrejs Verdruß keinen Internetzugang. Doch diesen braucht er, um mit Onlineunterricht in russischer Literatur ein wenig Geld nebenbei zu verdienen. Sein Bruder hat ihm zwar den Flug bezahlt, aber für alle weiteren Kosten muß Andrej selbst aufkommen. Zwar könnte er mit einem modernen Laptop problem- und kostenlos das WLAN-Signal des Nachbarn empfangen, aber diesen besitzt er natürlich nicht. Stattdessen schleppt er sein veraltetes Modell täglich in ein Café, nippt dort stundenlang am günstigsten Getränk, um somit das Internet nutzen zu können. Daß er auf diese Weise nicht zum beliebtesten Stammgast avanciert, macht ihm die Bedienung mehr als nur deutlich. Seine ersten Schritte, in Moskau Fuß zu fassen, scheinen wie verhext. Vor seinem ersten Diskobesuch bricht ihm ein eifersüchtiger Ehemann mit der Pistole die Nase. 

Eine bunte Mischung aus postsowjetischen Biographien

Leider ist das nicht sein einziges Problem. Die Demenz bei Großmutter Sewa wird täglich schlimmer. Manchmal erkennt sie ihn nicht oder bietet ihm nachmittags ein Frühstück an. Rußland nennt sie immer wieder „ein schreckliches Land“ und rät ihrem Enkel, es schnellstens wieder zu verlassen. Doch genau das möchte Andrej nicht. Nach einigen schmerzhaften Startschwierigkeiten nimmt er sein Schicksal selbst in die Hand. Seiner Großmutter gegenüber zeigt er mehr Interesse, wodurch er mehr über das Leben in der Sowjetunion, Alltags-Antisemitismus und über seine Familie erfährt.

Die Erzählungen gefallen ihm so gut, daß er versucht, daraus eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, die ihm hoffentlich die lang ersehnte Professur bringt. Er schließt sich einer erfolglosen Amateur-Eishockeymannschaft an. Diese ist eine bunte Mischung aus postsowjetischen Biographien und deren Ansichten. Darunter Anwälte, Immobilienunternehmer und Öl-Manager. Schnell freundet er sich mit dem Torwart Sergej an. Aus Protest gegen die immer schneller voranschreitende Privatisierung des Bildungssystems gab er seine Anstellung an der Universität auf. Er nimmt Andrej mit zu einer Diskussionsveranstaltung und stellt ihn seinem Freundeskreis vor. Diese sind sozialistische Aktivisten und akzeptieren nach anfänglicher Skepsis Andrej schlußendlich als einen von sich.

Mit der jungen politischen Aktivistin  Julia teilt er bald mehr als nur die Vorliebe für marxistische Theorien. Sein Blick auf Rußland und die russische Gesellschaft wird kritischer, und er beginnt Demonstrationen mit zu organisieren. Der Roman endet hier nicht, sondern Gessen zeigt dem Leser auf 500 Seiten auch weitere Facetten von Rußland. Wahrscheinlich der lesenswerteste Roman zum modernen Rußland der letzten Jahre.

Keith Gessen: Ein schreckliches Land. Roman. CulturBooks Verlag, Hamburg 2021, gebunden, 486 Seiten, 24 Euro