© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Rufer in der metaphysischen Wüste
Von „europäischen Werten“ ist derzeit oft die Rede. Was, bitte schön, soll das sein?
Dietmar Mehrens

Gibt es „europäische Werte“? Der Rekurs auf sie wurde in den vergangenen Monaten wiederholt für notwendig erachtet. Eine Not galt es dabei meist zu wenden, die in den ehemaligen Ostblockstaaten Ungarn und Polen anscheinend besonders groß ist. Eine solche Not war etwa, daß man sich in diesen Ländern weigerte, sich in eine multikulturelle Suppenküche transformieren zu lassen, eine andere, die damit im Kausalzusammenhang stehen dürfte, daß Polen dem nationalen Recht Vorrang einräumen möchte gegenüber EU-Recht.

Wieder eine andere Notsituation trat in Ungarn ein durch ein Jugendschutzgesetz, das es untersagt, Minderjährigen pornographische Inhalte sowie Propaganda für Geschlechtsumwandlungen und abwegige Partnerschaftsmodelle zugänglich zu machen, ein Gesetz ganz im Geiste Konrad Adenauers also, den man als eine der zentralen Führungsfiguren im Anfangsstadium der europäischen Einigung betrachten muß. Schon deshalb stellt sich die Frage, inwiefern bei den genannten Fällen ein Angriff auf „europäische Werte“ vorlag. Und was für Werte sollen das sein?

Hört man genauer hin, stößt man auf die Begriffe Aufklärung und Christentum. Es sind also zwei durchaus unterschiedliche Quellen, aus denen da Werte hervorgesprudelt sein sollen, auf die man sich noch heute berufen darf, ja soll.

Wer von christlichen Werten spricht, landet schnell beim Dekalog, der Liste von zehn grundlegenden Geboten für ein gedeihliches menschliches Miteinander, die der jüdisch-christlichen Überlieferung zufolge ein Migrant namens Mose am Sinai empfing. Aber sind die wirklich tauglich, um die sittlichen Postulate zu begründen, die heute gern von europäischen Moralaposteln wie Ursula von der Leyen, Emmanuel Macron oder Frank-Walter Steinmeier gepredigt werden? Am Sonntag mal nicht arbeiten, nicht zu begehrlich werden, nicht falsch Zeugnis reden? Man könnte zu dem Thema im Vatikan nachfragen, beim Papst oder der Kongregation für die Glaubenslehre. Man würde dann rasch merken, daß sie als Leumundszeugen für die Gültigkeit dessen, was im Europa der Gegenwart gern als „Wert“ ausgegeben wird, nicht taugen.

Etwas verwerflich finden, es aber trotzdem tolerieren

Die „Ehe für alle“ hält auch der sonst so weltzugewandte Franziskus für Unfug, in der Abtreibungsfrage spricht er beharrlich von Mord, und die Gender-Ideologie bezeichnete er 2014 in Gegenwart österreichischer Bischöfe als „dämonisch“. Homosexuellen sei mit Achtung zu begegnen, so die katholische Lehrmeinung, aber die homosexuelle Praxis sei Ausdruck der Verworfenheit der Welt.

Protestanten, sofern sie sich nicht gänzlich von der Autorität der Heiligen Schrift abgekoppelt haben, können schwerlich widersprechen. Luthers „sola scriptura“ zwingt sie, bei diesen Streitfragen auf unzweifelhafte biblische Festlegungen wie den Schöpfungsbericht und die in dessen zahlreichen Briefen dargelegte Ethik des Paulus zu verweisen. Dessen Sittenstrenge wie auch die des Messias („Sündige hinfort nicht mehr!“) hatte allerdings schon früh in der Kirchengeschichte eine an die Lebenswirklichkeit des gebürtigen Sünders angepaßte Ethik erforderlich gemacht, die bei den Borgia-Päpsten besonders deutlich zum Vorschein kam.

Mit der Aufklärung emanzipierten sich selbstbewußte Bürger schließlich von einer dekadenten Aristokratie und Geistlichkeit, die sich zwar gern auf Gottesgnadentum berief, es aber verstörend selten als Ansporn für ein gottgefälliges Leben verstand. Voltaire und Rousseau setzten an die Stelle der kirchlichen Moral eine Verstandesethik, die von einem grundsätzlich neuen Nachdenken über das Menschsein geprägt war. Man spürte dem menschlichen Naturzustand nach – Ursprung der Vorstellung unveräußerlicher Menschenrechte, die bis heute das abendländische Selbstverständnis prägen.

Damit sind wir bei der zweiten Quelle für die sogenannten europäischen Werte angelangt. Es handelt sich freilich um eine Quelle mit vergiftetem Wasser. Drei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 begann die Guillotine Tag und Nacht zu klappern. Die von Robespierre ersonnene Zivilreligion legte noch vor dem König das fünfte Gebot unters Fallbeil.

Gleichwohl bleibt es ein unbestrittenes Verdienst der Revolution, in der die Aufklärung gipfelte, dem Bürger unantastbare Rechte erstritten zu haben, auf die dem Staat der Zugriff verweigert bleiben soll: Zu Menschenwürde und Gleichheit vor dem Gesetz, beides schon in der biblischen Ethik angelegt, traten grundlegende Freiheitsrechte wie Meinungs-, Glaubens- und Pressefreiheit. 

Erbe der Aufklärung war Napoleons Code Civil, der im 19. Jahrhundert maßgeblich für das europäische bürgerliche Recht wurde. Solange Kirche und Staat nicht institutionell getrennt waren, konnten ethische Grundüberzeugungen, über die in der Gesellschaft ein Mehrheitskonsens herrschte, auf das Privatleben der Bürger übergreifen. Mit der Zivilehe und dem Recht auf Ehescheidung sind musterhaft private Belange dem klerikalen Zugriff entzogen. Alle Gebote, die das Verhältnis zwischen Mensch und Gott regelten (wie die Gebote eins bis drei), und alle Gebote, die keine nachprüfbaren materiellen oder physischen Schäden bei einem anderen verursachten, waren fortan für die Rechtsprechung nicht mehr von Belang. Jetzt galt: Die Gesellschaft kann etwas verwerflich finden, muß es aber trotzdem tolerieren. Bis heute heißt das: Lügen, Seitensprünge, Orgien im Hurenhaus, Saufen, bis der Arzt kommt. Alles kein Problem.

Wenn Religionsfreiheit mit Identitätslosigkeit verwechselt wird

Die westlichen Gesellschaften der Gegenwart haben sich dagegen entschieden, ein nur moralisches Fehlverhalten mit offiziellen Züchtigungsmaßnahmen zu ahnden. Daß aus diesem Grund auch gleichgeschlechtliche Unzucht kein strafwürdiges Vergehen (mehr) darstellt, reicht jedoch selbstverständlich nicht aus, um Ungarns Jugendschutzgesetz als Verstoß gegen westliche Werte zu geißeln. Wo noch eine enge Bindung an die christliche Morallehre besteht wie in vielen ländlichen Regionen Europas, ist eher das Gegenteil folgerichtig: daß man weiterhin den Kopf schüttelt über zu tolerierendes, aber dem eigenen Sittengefühl widersprechendes Verhalten, vor dem wenigstens Heranwachsende noch zu schützen sind wie vor Alkohol und Zigaretten.

Moralische Grundüberzeugungen, die infolge einer vom Code Civil geprägten Jurisdiktion nicht einklagbar sind, haben sich natürlich deswegen nicht aus dem Gewissen der Menschen verabschiedet. Sie erleben vielmehr in den letzten Jahren eine beeindruckende Renaissance: als Antirassismus-Bekenntnis, als Nachhaltigkeitsmoral, als Klimaschutzlehre, als Gleichstellungsdogmatik, als Europa-Bejahung, als Willkommens- und Hilfsbereitschaftskultur, als Weltoffenheits- und Wertschätzungsdoktrin. Viele dieser neuen Moralpostulate verschränken sich – nicht zufällig – mit der politischen Agenda der Parteien und Bewegungen des linken Spektrums. 

Ihre Befürworter dürfen freilich nicht aus den Augen verlieren, daß ihre Forderungen weder gegen die Naturrechte auf einen eigenen Glauben und eine eigene Gesinnung (Artikel 10 und 11 der Menschenrechtserklärung von 1789) in Stellung gebracht werden dürfen noch in das Zivilrecht eindringen dürfen, das den Bürger vor Zugriffen von Moralisten und Gesinnungstätern schützt.

Einfacher gesagt: Eine Obrigkeit, die einen unglücklich Verheirateten nicht dazu zwingen möchte, an seiner kaputten Ehe festzuhalten, weil sie eine Scheidung unmoralisch findet, muß auch davon absehen, einen Katholiken, der Homosexualität für das Resultat einer satanischen Verführung hält, dazu zwingen zu wollen, seine Meinung zu ändern, weil sie (neuerdings) diese Meinung für moralisch verwerflich hält. Beides ist Privatsache, beides geht den Staat nichts an. Antirassismus- und Gender-Ideologie verweisen jedoch auf eine neue, politisch anerzogene Moral, die durchaus Parallelen zu dem aufweist, was früher die Domäne der Religion war. Soll vielleicht der Code Civil ihretwegen nach über 200 Jahren geknackt werden?

Eine Religion, deren Gott die menschliche Vernunft ist, hat ein strukturelles Defizit: Sie kann keine transzendent-universelle Geltung beanspruchen. Jede menschliche Vernunft erlischt mit dem Tode dessen, dem sie gegeben ist. Kein Bürger kann sich auf mehr als nur dasselbe Naturrecht berufen, das auch für seinen Mitbürger gilt. Es sei denn, er glaubt, seine Vernunft sei vernünftiger als die seines Nächsten, wie das Schwein Napoleon in George Orwells Stalinismus-Parabel „Farm der Tiere“.

Für dieses Problem schlägt John Locke (1632–1704), einer der wichtigsten Philosophen der Aufklärung, eine Lösung vor, die auch im deutschen Grundgesetz angelegt ist, indem er die Verantwortung vor Gott für unverzichtbar erklärt. Locke vertraut der menschlichen Vernunft allein nicht und empfiehlt ihr eine bürgerliche Erziehung, deren Wertmaßstäbe im Christentum wurzeln. Jedes Kind müsse, schreibt der Staatstheoretiker in „Some Thoughts Concerning Education“, eine Vorstellung haben von dem „höchsten Wesen, dem Urheber und Schöpfer aller Dinge, von dem wir alles empfangen, was wir haben, der uns liebt und uns alle Dinge gibt“. Deswegen geht Locke so weit, Atheismus aus der von ihm ansonsten beworbenen Toleranzregel auszunehmen, da er an den Grundfundamenten des Staatswesens nagt: „Gott auch nur in Gedanken wegnehmen, heißt alles dieses auflösen“, schreibt er in „A Letter on Toleration“. Glaube an Gott ist für Locke keine Theorie unter anderen, sondern das Fundament aller Moral. Ohne diesen sei der Mensch zu den gefährlichsten wilden Tieren zu zählen. Eine Absage an religiösen Relativismus, vor dem auch Benedikt XVI. immer gewarnt hat. 

In seinem Essay „Concerning Human Understanding“ verlieh Locke der Überzeugung Ausdruck, daß der soziale Druck der „Geringschätzung“, den die so gebildete gesittete Mehrheit auf Menschen mit nicht tugendhaften Meinungen ausüben kann, derart groß wird, daß diese von selbst verschwinden. Das ist im Grunde genau das, was den linken Hypermoralisten von heute mit Blick auf renitente Rechtsabweichler vorschwebt. Nur sind leider die meisten Hypermoralisten Atheisten. Ob sie da nicht aufs falsche Pferd gesetzt haben?

Daß sich Europas Staatenlenker 2009 für den Vertrag von Lissabon (eine EU-Verfassung gibt es nicht, auch das läßt die Kritik an Polen reichlich vermessen aussehen) nur auf die vage, unverbindliche Formulierung vom „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ einigen konnten, macht das Gerede von den „Werten Europas“ zu einem ziemlich fadenscheinigen Rhetorik-Manöver, das verschleiern soll, daß man sich auf fundamentale Werte gar nicht geeinigt hat.

Beruft man sich auf den Code Civil, dann kann man jegliche Moral getrost draußen vor der Tür lassen. Beruft man sich auf die Aufklärung, muß man erklären, warum man Glaubens- und Gewissensfreiheit derart geringschätzt, daß ein Katholik wie Rocco Buttiglione nicht EU-Kommissar werden durfte. Beruft man sich auf das Christentum, sind erst mal Reformen nötig, die im Sinne John Lockes einem christlich fundierten Ethos die nötige Geltung verschaffen und Europa aus der Abbruchhalde des Laizismus herausschleppen, um es hernach wieder in den Rang eines christlichen Abendlandes zu erheben.

Die Wahrheit ist: Europa hat sich mit seinem Hang zu religiöser Beliebigkeit – eine Folge der Verwechslung von Religionsfreiheit mit Identitätslosigkeit – in eine Aporie begeben: Wo alles gleich gültig ist, bleiben auch die Menschen gleichgültig. Ohne klar definiertes ethisches Fundament kann von den Bürgern auch kein ethisches Handeln eingefordert werden. Es bleibt bei Appellen wie klingenden Schellen. Die Kassandras des gegenwärtigen Zeitalters sind Rufer in einer metaphysischen Wüste.

Foto: Napoleon I., gekrönt von der Allegorie der Zeit, führt den Code Civil ein; Gemälde von Jean-Baptiste Mauzaisse, 1833: Rechtsgrundlage