© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Der Weg zu einem effektiveren Grenzregime liegt in rechtlichen Reformen
Im Labyrinth der Paragraphen
Elvira Sellin

Sie werden im Folgenden nichts lesen, was Ihnen gefallen wird. Sie werden zudem nur einen kleinen Einblick in die ausufernde Materie erhalten. Sie werden mit Widerworten zum bisherigen Duktus konfrontiert von jemandem, der im Grunde das gleiche Ziel verfolgt wie Sie: die Steuerung der Migration. Sie werden sich nicht freuen, aber nach der Lektüre verstehen, wo der Weg hinführen muß, wenn wir die Probleme wirklich lösen wollen.

Es soll nicht darum gehen, ob man Grenzen schützen und Ausländer zurückweisen kann, wenn man nur will. Grenzsicherungssysteme aus aller Welt sind bekannt, und es ist mühselig, darauf zu verweisen, daß genug Personal und Wachinstrumente logischerweise die Grenzüberwachung effizienter machen. Die Frage ist doch: Warum macht dies die Bundesrepublik Deutschland nicht? Die Antwort gibt uns das Recht.

Im Ausländerrecht können wir uns leider nicht nur auf uns als Souverän konzentrieren. Zwar gilt das Recht des Nationalstaats insbesondere für das, was im Staat passiert (zum Beispiel Arbeitsbeschränkungen für Ausländer oder Visaerteilung bzw. -versagung). Doch gerade wenn es um den sogenannten humanitären Bereich der Migration geht, insbesondere um die Einreise, gilt nicht nur deutsches Recht. Über viele Jahrzehnte hinweg ist die Bundesrepublik Deutschland – im Namen des Souveräns – internationalen Abkommen beigetreten. Am stärksten betroffen sind wir von den Regeln der Europäischen Union. Dies beachten aber viele Kritiker der Migration in Deutschland nicht.

Viele Juristen, auch sehr, sehr gute, konzentrieren sich vor allem auf nationale Gesetze, den Willen des Souveräns und die Prinzipien unserer Verfassung (oft durch bloßen Verweis auf Artikel 16a GG [politisches Asyl], welcher im übrigen bei Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten sowieso nicht angewendet wird). Gerade die Verfassung wird aber am wenigsten von EU-Recht und internationalen Abkommen überlagert. Anders sieht es im Ausländerrecht aus, insbesondere im humanitären Bereich, welcher nicht nur politisches Asyl umfaßt.

Das nationale Recht, die EU-Verordnungen und internationale Abkommen sind quasi das Labyrinth, in welchem wir uns befinden. Es kommt nicht darauf an, mit viel Willen einen gordischen Knoten zu durchschlagen, sondern mit Klugheit den roten Faden zu erkennen und zu nutzen!

Nehmen wir den Faden auf: Die grundsätzliche Intention des Gesetzgebers findet sich in Paragraph 18 Asylgesetz Absatz 1: Personen, welche um Asyl nachsuchen, ist die Einreise zu gewähren, sie sind von der Grenzpolizei an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung weiterzuleiten. Das ist die Norm! Von dieser Norm kann allerdings abgewichen werden.

Wir kommen zu Absatz 2, welcher in den vergangenen Jahren sehr häufig zu lesen war – leider gerne stark verkürzt. „Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn 1. er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) einreist“ –

Doch bitte nicht zu früh freuen, denn es geht weiter: „2. Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird (…)“

Dieser Absatz verweist auf die supranationalen Bestandteile, welche auf das nationale Gesetz einwirken. Uns umgeben nicht mehr einfache Drittstaaten, sondern EU-Mitgliedstaaten und die Schweiz, welche alle das Dubliner Übereinkommen anwenden. Das Dublin-Verfahren ist keine Prüfung des Anspruchs auf Asyl, sondern eine Prüfung der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens! Artikel 3 Dublin-III-VO verlangt, daß „die Mitgliedstaaten […] jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt [, prüfen].“ Die Pflicht zu einer Prüfung der Zuständigkeit erwächst allein aus dem sogenannten Schutzersuchen.

Für eine Zurückweisung muß also zum einen festgestellt werden, welches andere Land zuständig ist und zum anderen das Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet werden. Hier hat die Verwaltung einiges zu tun.

Das bedeutet: Einfache, massenhafte Zurückweisungen sind laut Gesetz gerade nicht vorgesehen, es gilt die Einzelfallprüfung – so wie üblich in einem Rechtsstaat. Außerdem ist eher selten das Land zuständig, aus welchem die Personen zu uns einreisen (beispielsweise Österreich), auch wenn dies jetzt bei Polen häufiger der Fall sein würde. Für die Zuständigkeit ist auch nicht nur die Erstregistrierung entscheidend. Für die Prüfung der Zuständigkeit gibt es neun Kriterien, die mehrfach unterteilt sind. Ein Kriterium sind frühere Visa oder Voraufenthalte, ein anderes die Möglichkeit des Nachzugs zu im Ankunftsland befindlichen, schutzberechtigten (nahen) Familienangehörigen. Polizisten können nur selten an der Grenze schnell alle Kriterien korrekt prüfen und das Wiederaufnahmeverfahren einleiten; Sie können vor allem nicht Personen, beispielsweise aus Österreich kommend, zurückweisen, wenn womöglich doch Italien zuständig wäre.

Außer der Regelung klarer Zuständigkeiten zwischen EU-Mitgliedstaaten geht es auch um die Einhaltung des Nichtzurückweisungsgebots (Refoulement-Verbot) der Genfer Flüchtlingskonvention. Wer also bis hierhin gelesen hatte und aus dem Bauch heraus für den Dexit war, muß noch mehr berücksichtigen: Das Nichtzurückweisungsgebot untersagt eine Zurückweisung in ein Land, in welchem dem Schutzsuchenden Schaden drohen könnte. Nun wäre dies von Deutschland aus betrachtet zum Beispiel in Österreich nicht der Fall, allerdings gilt es auch, Kettenabschiebungen zu unterbinden. Deutschland muß also sichergehen, daß Österreich die Person nicht einfach nach Ungarn zurückschickt, dann Ungarn nach Serbien und so weiter, bis der Betroffene wieder – theoretisch – in seinem Herkunftsland stünde.

Abgesehen von der Genfer Flüchtlingskonvention stellt sich aber auch die nicht zu beantwortende Frage, welche Auswirkungen ein Dexit auf die Beziehungen zu den Nachbarländern hätte, wenn wir Grenzen strikt kontrollieren und Massen zurückweisen würden. Es gab mit Tirol bereits wegen der bisherigen Kontrollen Probleme.

Ungeachtet dessen kann man entgegenhalten, daß doch spätestens Corona gezeigt habe, daß Grenzen geschlossen und kontrolliert werden können. Es ist richtig, daß dies auch im bestehenden Rechtsrahmen möglich ist, allerdings äußerst stark eingeschränkt, denn im Schengenraum gilt der Grundsatz der offenen Grenzen – ohne Kontrollen. Gruppenbezogene Zurückweisungen sind nur in absoluten Ausnahmesituationen möglich, nämlich wenn die Sicherheit und Ordnung des Landes gefährdet sind.

Hier sind wir nicht nur im rein rechtlichen Bereich, sondern auch beim politischen Willen. Wenn der Wille nicht da ist und man stur behaupten möchte, daß Sicherheit und Ordnung nicht gefährdet seien – dann sind sie es auch nicht. Dann ignoriert man, daß Polizei- und Behördenpersonal aufgrund einer Krise anderen, originären Aufgaben nicht mehr nachkommen können. Man ignoriert die Zunahme von Gewalt im eigenen Land. Wenn der Wille aber da ist, kann man diese Einschränkungen im Schengen-Raum bei der EU beantragen beziehungsweise vor der EU rechtfertigen. Allerdings nur in absoluten Ausnahmefällen und zeitlich begrenzt. Dies haben einzelne Länder 2015 wegen der Migration getan und aufgrund des Coronavirus auch Deutschland.

Doch auch während der Corona-Maßnahmen war die Grenze nie ganz geschlossen, und es gab eine Gruppe von Ausländern, die immer einreisen durfte: Asylbewerber. Das war nicht beliebig, sondern weil das sogenannte humanitäre Recht in Deutschland und Europa so ausgesprochen großgeschrieben wird. Dies hat historische Ursachen, und zwar nicht nur wegen der schrecklichen Gewalt und Zerstörung von Menschenleben, die wir in Europa von 1914 bis 1945 erlebten. Weltweit gibt es ständig blutige Konflikte, Massaker und Massenmorde. Doch unser Wertesystem, unser Humanismus und unsere Wertschätzung gegenüber Individuen haben zu der Entwicklung dieser Gesetze und Regelungen beigetragen. Im Grunde ist diese Entwicklung ein Grund zu Stolz.

Wir müssen fortan jedoch noch Mechanismen erfinden, die einen Mißbrauch unserer Werte verhindern. Die Notwendigkeit hierfür zeigt sich aktuell an der polnisch-weißrussischen Grenze. Diktator Lukaschenko fügt der EU keinen neuen Schaden zu, er übt allerdings starken Druck auf unsere Achillesferse aus. Wir haben uns selbst in eine Position manövriert, die von anderen Ländern skrupellos ausgenutzt werden kann, früher von der Türkei, heute von Weißrußland. Wir müssen also mehr dafür tun, um dieses gute System, unser gutes Staatswesen, zu schützen.

Schließlich werden viele einwenden, daß wir doch noch die Möglichkeit der Grenzkontrollen hätten. Richtig, sie wurden sogar schon angewendet. Der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière führte sie Mitte September 2015 ein. Sie wurden mit der Zeit zwar reduziert, aber seitdem dennoch jeweils um sechs Monate verlängert, auch durch Innenminister Horst Seehofer. Dadurch ist ein Konflikt mit der EU entstanden: Diese sieht für Grenzkontrollen jeweils sechs Monate, maximal zwei Jahre vor. Seehofer wollte auf die EU Druck ausüben, daß Asylsystem zu reformieren, und verlängerte die migrationsbedingten Kontrollen wiederholt, bis uns Corona ereilte. 2015 bis 2016 waren die Kontrollen personell besonders hoch besetzt und geographisch breit angelegt – gleichzeitig hatten wir die höchsten Zugangszahlen unserer Geschichte. Denn die Kontrollen dienen nur der Ordnung der Einreise, der Registrierung, nicht der Zurückweisung von Asylbewerbern. Natürlich kommt es durch Kontrollen auch zu mehr Zurückweisungen, aber dies betrifft auch andere Gruppen von Ausländern und verhältnismäßig wenige Asylbewerber.

Wenn wir lediglich auf dem Stand bleiben, nur Grenzkontrollen und Grenzschließungen zu fordern, treten wir auf der Stelle. Was passiert währenddessen? Die Gesetze bleiben, wie sie sind. Es gibt nicht genug Partner, die hier konkret auf eine Änderung einwirken würden. Was machen in der Zeit die anderen? Die weltweit vernetzten Pro-Migrationsvereine und Parteien befassen sich mit den Gesetzen und gestalten die Debatte. Während viele Konservative und Rechte Maßnahmen fordern, welche schlichtweg mit dem Gesetz nicht vereinbar sind oder im Rahmen der geltenden Gesetze nicht effektiv, analysiert die Gegenseite den Status quo und gestaltet zukünftige Maßnahmen konkret aus. Stichwort: Uno-Migrationspakt von 2018. Stichwort: neue Einwanderungspolitik der kommenden Ampel-Koalition.

Das ist das, wohin auch wir kommen müssen: Wir müssen den Status quo der Rechtslage genau in den Blick nehmen, um dann im Rahmen unserer Demokratie und unseres Rechtsstaats, auch gemeinsam mit unseren Nachbarländern, den zukünftigen Umgang mit Migration zu gestalten. Das einfache Wollen und Fordern reicht nicht und hat weder uns noch die Sache an sich in den letzten Jahren weitergebracht.

Zum guten Ende noch etwas zur „Grenzöffnung“. Es ist ein schöner Kampfbegriff, doch bitte möge jeder, der an diesem Begriff festhält, das Folgende erläutern: Zwischen 1990 bis einschließlich 2014 sind etwa 2,5 Millionen Asylbewerber nach Deutschland eingereist. Allein von Januar 2015 bis einschließlich August 20215 waren es über 200.000 Personen. Wenn erst Anfang September 2015 die Grenze „geöffnet“ wurde, wie sind alle diese 2,7 Millionen Menschen bereits zuvor nach Deutschland gelangt? Wohl kaum durch zuvor „geschlossene“ Grenzen.






Elvira Sellin, Jahrgang 1986, arbeitete nach dem Studium der Politologie und Philosophie zunächst in der Ausländerbehörde. Derzeit ist sie tätig als politische Beraterin. Auf dem Forum schrieb sie zuletzt über das Unbehagen am eigenen Geschlecht und den Trend zur Transsexualität unter Jugendlichen („Identitäten im Sturm“, JF 34/20).

Foto: Stacheldrahtzaun an der polnischen EU-Außengrenze nahe dem Übergang Kuźnica: Wir haben uns selbst in eine Position manövriert, die von anderen skrupellos ausgenutzt werden kann, früher von der Türkei, heute von Weißrußland