© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

„High sein, frei sein, Terror muß dabei sein“
Vor fünfzig Jahren wurde der Linksterrorist Georg von Rauch in Berlin erschossen / Mythisierung in der linksalternativen Szene
Thomas Schäfer

Die linksterroristische Szene in der Bundesrepublik der 1970er Jahre bestand keineswegs nur aus der Baader-Meinhof-Gruppe beziehungsweise Roten Armee Fraktion (RAF). Denn da gab es unter anderem auch noch den Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen und die Tupamaros West-Berlin (TW). Die letztere Gruppierung folgte dabei dem Vorbild der kommunistischen Stadtguerilleros der Movimiento de Liberación Nacional – Tupamaros (MLN-T) in Uruguay, während die erstere nach dem anarchistischen Motto „High sein, frei sein, Terror muß dabei sein“ agierte. Eine wichtige Schlüsselperson in diesen beiden militanten Untergrundorganisationen war Georg von Rauch.

Der am 12. Mai 1947 geborene Sohn eines prominenten Osteuropahistorikers kam 1967 zum Studium nach West-Berlin, wo er sich politisch radikalisierte und zugleich betont antibürgerlich gerierte. So gehörte er der sogenannten „Wielandkommune“ an, welche in einer Wohnung logierte, die der Rechtsanwalt und spätere Mitbegründer der Grünen Otto Schily angemietet hatte. Diese finanzierte ihren Lebensstil – stark geprägt durch Drogenkonsum und sexuelle Experimente – mit kriminellen Aktivitäten wie der Erstellung von Raubdrucken. In der Charlottenburger Kommune gingen seinerzeit auch die meisten späteren Mitbegründer der RAF ein und aus.

Nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke im April 1968 engagierte sich von Rauch im eingangs erwähnten „Zentralrat“ und bei den TW, wobei die beiden Gruppierungen bald zur direkten Gewaltanwendung beziehungsweise zu Bomben- und Brandanschlägen übergingen. Das hierfür nötige Training erhielten von Rauch und vier seiner Gesinnungsgenossen im Oktober 1969 in einem Ausbildungslager der palästinensischen Terrororganisation Harakat at-Tahrir al-watani al-Filastini (Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas; Al-Fatah) in Jordanien, wo sie auch mit den PLO-Führern Jassir Arafat und Faruq al-Qadumi zusammentrafen.

Flucht während der Verhandlung im Berliner Kriminalgericht

Am 2. Februar 1970 schlug von Rauch dann gemeinsam mit Michael Baumann, Thomas Weisbecker, Hans Peter Knoll und Anne-Katrin Bruhns den Quick-Journalisten Horst Rieck in dessen Berliner Wohnung zusammen, weil er angeblich einen Schmähartikel über die „revolutionären Kämpfer“ geschrieben hatte. Im Nachgang hierzu wurden von Rauch sowie auch Baumann und Weisbecker verhaftet und wegen Nötigung, Körperverletzung sowie versuchten schweren Raubes angeklagt. Allerdings gelang es dem Linksterroristen zu fliehen, bevor das Urteil über ihn fiel: Während einer Verhandlungspause im Kriminalgericht von Berlin-Moabit tauschten von Rauch und Weisbecker, der gerade eben Haftverschonung bekommen hatte, am 8. Juli 1971 heimlich die Rollen. Dadurch konnte von Rauch unbehelligt aus dem Justizgebäude auf die Straße gelangen und abtauchen.

Wenige Tage später starb Petra Schelm als erstes RAF-Mitglied im Feuergefecht mit der Polizei. Daraufhin stieg die Gewaltbereitschaft innerhalb der linksterroristischen Szene nochmals an; zugleich fanden nun Gespräche zur Anbahnung eines allgemeinen Zusammenschlusses statt. Da von Rauch und dessen Komplizen aber andere Vorstellungen vom „Befreiungskampf“ hatten als die RAF, kam letztlich kein Bündnis zustande. Vielmehr bauten die nach der Selbstauflösung der Tupamaros West-Berlin autonom agierenden anarchistischen „Stadtguerilleros“ ihre eigenen konspirativen Strukturen weiter aus, wobei sie jedoch von den „Genossen“ der RAF mit Waffen und Geld versorgt wurden.

Zur Logistik der Untergrundgruppe um von Rauch gehörten auch gestohlene Autos mit den Kennzeichen legaler Fahrzeuge. Beim Umparken einer solchen „Dublette“ stießen von Rauch und Baumann sowie Hans Peter Knoll und Heinz Brockmann am Abend des 4. Dezember 1971 in der Eisenacher Straße in Berlin-Schöneberg auf mehrere Polizeibeamte, welche im Rahmen der „Operation Trabrennen“ nach RAF-Mitgliedern fahndeten, zu denen sie fälschlicherweise auch von Rauch zählten. Der wurde im Verlauf des sofort einsetzenden Schußwechsels tödlich in den Kopf getroffen, während seine Begleiter fliehen konnten.

Weil Knoll dabei die Pistole von Rauchs mitgenommen hatte, entstand alsbald der Mythos um den „unbewaffneten Georg“, welcher von „den Bullenschweinen ermordet“ worden sei. Zum Gedenken an den angeblichen Märtyrer nannten linke Aktivisten das von ihnen besetzte ehemalige Schwesternwohnheim des Bethanien-Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg „Georg-von-Rauch-Haus“. Rund vier Monate später führte die Polizei eine große Razzia in dem Gebäude durch, was die Rockgruppe Ton, Steine, Scherben zu ihrem „Rauch-Haus-Song“ inspirierte, der seither als Hymne der Hausbesetzerszene fungiert.

Das war freilich nicht die einzige Reaktion auf den Tod von Rauchs. Noch im Dezember 1971 erstattete der Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele, ein weiterer späterer Spitzenmann der Grünen, Anzeige „gegen unbekannte Bedienstete des Landes Berlin“ wegen „Totschlags oder im günstigsten Falle fahrlässiger Tötung“. Damit hatte er jedoch angesichts der Beweislage keinen Erfolg.

Einige der ehemaligen Komplizen von Rauchs setzten ihren Kampf gegen das verhaßte System der Bundesrepublik fort und gründeten im Januar 1972 die Bewegung 2. Juni – benannt nach dem Todestag des Studenten Benno Ohnesorg, der 1967 von einem Polizisten erschossen worden war. Diese Gruppierung existierte bis Mitte 1980 und ging dann in der RAF auf. Sie zeichnete für drei Sprengstoff- und Brandanschläge, zwei Entführungen, zwei Banküberfälle sowie die Ermordung des Präsidenten des Berliner Kammergerichts Günter von Drenkmann verantwortlich.

Foto: Georg von Rauch auf Fahndungsfoto 1970: „Von Bullenschweinen ermordet“