© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Bedeutungsverlust geschichtlicher Bildung ist meßbar
Erst schleichend, dann rapide
(wm)

Über den Verlust historischer Orientierung läßt sich nicht nur lamentieren, man kann den Schwund auch statistisch nachweisen, wie das der Bildungsforscher Peter Kauder (TU Dortmund) getan hat. Seine Untersuchung über den „Bedeutungsverlust des Geschichtlich-Historischen in deutschsprachigen Dissertationen der Erziehungswissenschaft (1945–2019)“ macht „Geschichtsvergessenheit“ am Beispiel einer wichtigen geisteswissenschaftlichen Disziplin, die seit 2000 durchschnittlich 450 Doktorarbeiten ausspuckt, empirisch faßbar (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 97/2021). Allein schon Kauders Rangliste der Namen pädagogischer Klassiker wie Comenius, Rousseau, Kant, Herbart, Wilhelm von Humboldt, Pestalozzi, einst berühmter Fachgrößen wie Spranger, Nohl, Kerschensteiner oder externer Autoritäten wie Marx oder Freud spricht eine klare Sprache. Überall geht es mit den Bezugnahmen auf deren Werke „erst schleichend, dann rapide“ zurück. Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), aus dessen Erziehungskonzept sich ein neuer Schultyp entwickelte, die Volksschule, kommt in Dissertationen seit 2010 gar nicht mehr vor. Selbst Karl Marx, zwischen 1970 und 1979 der Autor mit den meisten Referenzen nach Pestalozzi, findet zwischen 2010 und 2019 nur in einer von 476 pädagogischen Dissertationen Beachtung. 


 https://brill.com