© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Völkermord durch Hunger
Der Holodomor in der deutsch-ukrainischen Verflechtungsgeschichte des 20. Jahrhunderts
Oliver Busch

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Darum muß im Buch der Geschichte bis in die frühe Stalin-Ära zurückblättern, wer die aktuell höchst gespannten Beziehungen zwischen Rußland und der Ukraine besser verstehen will. Um schließlich im so fernen wie düsteren „Zeitalter der Extreme“ auf den Holodomor zu stoßen, auf die große Hungerkatastrophe von 1932/33, die in der Ukraine etwa 3,9 Millionen Menschen das Leben kostete. Wobei zu bedenken ist, daß eine präzisere, mutmaßlich höhere Zahl der Opfer kaum mehr zu belegen sein dürfte, da die Sowjetbehörden damals angewiesen waren, die Hungertoten nicht zu registrieren. Nach der bolschewistischen Oktoberrevolution hatte die Ukrainische Volksrepublik eine fragile staatliche Unabhängigkeit erkämpft. Doch spätestens mit der staatlichen Beschlagnahme von Getreide, um damit die sowjetischen Exporte zu steigern und damit letztlich die Industrialisierung der Sowjetunion mit Devisen zu finanzieren, wurde diese Unabhängigkeit gestutzt. Daneben spielte das ideologisch motivierte Bestreben eine Rolle, die Bauern insgesamt zu disziplinieren und die soziale Oberschicht der Großbauern („Kulaken“) auszulöschen.  

Der Begriff „Holodomor“ bedeutet Tötung durch Hunger. Der Name klingt nicht zufällig an „Holocaust“ an. Soll er doch markieren, daß am  ukrainischen ähnlich wie am jüdischen Volk ein Genozid ungeheuerlichen Ausmaßes vollstreckt worden ist. Eine Deutung, die das Parlament in Kiew im November 2006 gesetzlich fixierte. Bis heute kämpft die Ukraine um die internationale Anerkennung dieses, gemessen an der Zahl der Todesopfer, größten Einzelverbrechens des Stalinismus als „Völkermord“. Mit mäßigem Erfolg, da nur die baltischen Staaten, Polen, Kanada und Australien sich dieser Lesart anschlossen, während sich der Deutsche Bundestag bislang vornehm zurückhält und das EU-Parlament sich 2008 nur eine lasche Einstufung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ abrang. 

Dabei geht es der Ukraine eigentlich darum, den Holodomor stärker in die europäische und globale Erinnerungskultur zu integrieren. Stattdessen erzielte die von Kiew als Waffe eingesetzte Genozid-Geschichte eine in dieser Intensität wohl unbeabsichtigte Wirkung im derzeit mit Wladimir Putins Rußland ausgefochtenen Propagandakrieg. In der damit befestigten Sichtweise, die „Erbfeindschaft“ zwischen den nahe verwandten slawischen Völkern statuiert, erscheint der an der Spitze des militärisch mächtigeren russischen Nachbarn stehende Präsident dann fast wie ein Wiedergänger Stalins.

Für eine chronische Verbitterung der Ukrainer über Generationen hinweg sorgte aber nicht allein das traumatisierende Ereignis selbst, sondern ebenso das von Moskau verordnete Schweigen über diesen Völkermord. So war die Hungerkatastrophe von 1932/33 in der 1990 untergegangenen Sowjet-union doch ein absolutes Tabu. Öffentlich davon zu sprechen galt wahlweise als streng sanktionierte antisowjetische Propaganda, konterrevolutionäre Agitation oder schlicht als Vaterlandsverrat. Noch in den 1980ern, während der „Perestroika“, kursierten in den USA und Kanada vom sowjetischen Geheimdienst komponierte Pamphlete, die exil-ukrainische Dokumentationen des Holodomor als „Fake News“ verhöhnten, die „Nazi-Propaganda“ kolportieren würden. 

Im Westen sollte das Thema nicht die Entspannungspolitik stören

Solche subversiven Aktivitäten quittierten etablierte westdeutsche Historiker übrigens en bloc mit beflissener Diskretion dem Thema gegenüber, da es für sie entweder die „Entspannung“ und den „Wandel durch Annäherung“ störte, oder Josef Stalins Untaten ihnen geeignet schienen, jene Adolf Hitlers zu „relativieren“. Kein Wunder, wenn auch jenseits der Historikerzunft, im „Bewußtsein der Deutschen“, wie die Heidelberger Osteuropa-Historikerin Tanja Penter kürzlich feststellte, der Holodomor eher „verdrängt oder ignoriert“ worden ist (Osteuropa 73/2020).   

Vor 1991, als die Ukraine ihre Unabhängigkeit gewann, war der Schleier über dem Staatsgeheimnis Holodomor nur ein einziges Mal gelüftet worden: während der deutschen Besatzungsherrschaft zwischen 1941 und 1944. Mit diesem von der Forschung kaum wahrgenommenen, voller Paradoxien steckenden Kapitel der „deutsch-ukrainischen Verflechtungsgeschichte im 20. Jahrhundert“ befaßt sich eine von Tanja Penter zusammen mit dem Politikwissenschaftler Dmytro Tytarenko (Staatliche Universität für innere Angelegenheiten Donezk in Kryvyj Rih) auf breiter Quellenbasis ruhende, soeben in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (4/2021) publizierte Studie. 

Im deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion kam der Propaganda gegenüber der Zivilbevölkerung in den 1941/42 besetzten westlichen Territorien der UdSSR erhebliches Gewicht zu. Allein in den Grenzen der heutigen Ukraine erschienen bis 1944 üppige 453 Periodika, überwiegend in ukrainischer Sprache. Ihre Redaktion lag in den Händen einheimischer Journalisten, die unter Kontrolle und Zensur deutscher Propagandastaffeln arbeiteten. Die überließen die inhaltliche Gestaltung jedoch großzügig Vertretern der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die sich von den Deutschen einen unabhängigen Staat erhofften. Um dafür das nationale Bewußtsein der Ukrainer zu fördern und das Sowjetsystem gründlich zu diskreditieren, bot sich ihnen kein günstigerer Stoff an als die „große Hungersnot“. Zumal sich hier alle Köpfe der bolschewistischen Hydra in abschreckender Weise präsentieren ließen. Der Holodomor stellt sich in vielen Presseartikeln daher als Gemisch aus Zwangskollektivierung, Ausbeutung, gezieltem Aushungern, Terror, Deportation, radikaler Russifizierung dar. Regelrechten „Enthüllungsjournalismus“, auf solidem Faktenfundament, trieb die Charkower Zeitung Nova Ukraïna, deren 80 Artikel 1941/42 auch erstmals die Anklage mit validen Opferzahlen untermauerten; das Sowjetregime habe 1932/33 den „kriminellen Versuch“ unternommen, „das ukrainische Volk physisch zu zerstören“. Im selben Blatt erschien im November 1942 auch die erste wissenschaftliche Analyse der vorsätzlich provozierten Hungerkatastrophe. 

Hitler verscherzte sich Sympathien wiederum durch Hungerpolitik

Nie vor 1990 ist ein breites ukrainisches Lese- sowie Theater- und Kinopublikum besser über den „Hunger-Holocaust“ informiert worden. So sei, gestützt auf OUN-Expertise, tatsächlich „ein genaues Bild“ vom Holodomor vermittelt worden. Aber das geschah zu einer Zeit, als Hitlers menschenverachtende „Hungerpolitik“ Stalins Methoden fast kopierte, die „Kornkammer“ Ukraine rücksichtslos für die Lebensmittelversorgung des Reiches ausplünderte, ihre Bewohner massenhaft als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppte und Widerstand dagegen mit blutigem Terror unterdrückte. Am offenkundigen Widerspruch zu diesen Besatzungsrealitäten sei die deutsche Propaganda zerschellt. Hitler, so hieß es darum im Volksmund, gelang in einem Jahr, was Stalin in 25 Jahren nicht schaffte: alle Ukrainer dazu zu bringen, die Sowjetmacht zu lieben. Ungeachtet dessen, zeigen sich Penter und Tytarenko davon überzeugt, daß das einst von NS-Propagandisten „gerahmte“ antisowjetische Rußlandbild in der „aufgeheizten Situation des russisch-ukrainischen Konflikts“ noch fortlebt. 

Foto: Schreibmaschine der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) 1947: Aufklärung über Holodomor; Verhungernder Mann in den Straßen Kiews 1932: Die Hungerkatastrophe von 1932/33 war in der Sowjetunion ein absolutes Tabu