© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Gefahr für das Projekt der Aufklärung
Der bekennende Linke Bernd Stegemann gegen die „Wutkultur“ der postmodernen Identitätspolitiker in seinem Milieu
MIchael Dienstbier

Die Revolution frißt ihre Kinder – die ewiggültige Relevanz dieses Bonmots mußte Bernd Stegemann in den vergangenen Jahren gleich mehrfach erfahren. Der Dramaturg und Alt-Marxist steht seit 2018 im Visier der postmodernen Identitätslinken, was sich konkret in digitalen und analogen Verleumdungskampagnen manifestiert. Erster Anlaß war sein 2018 erschienenes Buch „Die Moralfalle“, in dem er der größtenteils jungen „Woke“-Linken „eine Hypersensibilität in allen Fragen der Identität, eine Blindheit gegenüber ökonomischen Fragen und das unbedingte Verlangen, die eigene Verletztheit absolut zu setzen“, vorwarf. 

Im selben Jahr initiierte er mit Sahra Wagenknecht die mittlerweile gescheiterte linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Ergebnis waren weitere regelrechte Haßattacken aus dem Parteiapparat der Linken und jungen Aktivisten, die den beiden Rassismus und LGTBQ-Feindlichkeit unterstellten. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Kulturschaffenden, die beim ersten Gegenwind zurück in den Schoß des Mainstreams fliehen, scheint Stegemann nicht an akuter Rückgratsverkümmerung zu leiden. 2021 legte er zuerst mit „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ und nun mit dem Langessay „Wutkultur“ nach, in dem er seine Angriffe auf die linke Identitätspolitik verschärft, präzisiert und deren existentielle Gefahr für das Projekt der Aufklärung herausstellt.

Wut ist das Signum unserer Zeit, und das muß nicht automatisch etwas Schlechtes verheißen. Das bereits von Platon entwickelte Konzept des Thymos steht am Beginn abendländischer Kulturwerdung. Dieser Begriff umfaßt verwandte Bedeutungen wie Wut, Zorn, Mut oder Lebenskraft und beziehe sich vor allem, so Stegemann, auf „das Streben nach Anerkennung“. Dabei ist es die Dosis allein, die das Gift macht. Wut kann der Antreiber zu notwendigen Veränderungsprozessen sein, aber auch zu permanentem Aufruhr um seiner selbst willen führen. Stegemann sieht die Aufgabe einer produktiven Wutkultur darin, die Balance zwischen diesen Polen herzustellen.

Warnungen vor linkem Wutfuror im Namen von Diversität

In Zeiten identitätspolitischen Furors ist dies die große Aufgabe unserer Zeit. Um den potentiell spaltenden Charakter von Identitätspolitik zu verdeutlichen, vergleicht Stegemann diese mit Klassenpolitik, wo er als historischer Materialist den Hauptwiderspruch des derzeitigen Herrschafts- und Gesellschaftssystems verortet. Klassengegensätze seien Resultat objektiver Faktoren, nämlich unterschiedlicher Verteilung von Produktionsmitteln und Eigentum. Identitätspolitik hingegen betreibe eine Art der Gruppenbildung, die willkürlich erfolge. Alles könne zum Zentrum des eigenen Selbst erklärt werden: Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Religion, Musikgeschmack, Haarfarbe, Nasenlänge usw. Dies alles beruhe jedoch auf einer freien Willensentscheidung: Jeder könne seinen Glauben oder seinen Musikgeschmack zum Kern der eigenen Identität machen, müsse es jedoch nicht. Klassengegensätze jedoch seien real und existierten auch außerhalb des eigenen Bewußtseins. Für Stegemann ist die Identitätspolitik daher eine Art Parasit der Klassenpolitik, der den objektiven Charakter zweiterer auf den willkürlichen ersterer überträgt.

Bei den derzeitigen Kulturkämpfen geht es um viel mehr als die Quotierung sämtlicher Lebensbereiche, die Delegitimierung der traditionellen Kernfamilie oder die Gender-ideologische Verschandelung unserer Sprache. So dramatisch dies alles ist, steht etwas Größeres im Zentrum der Angriffe. Ziel sei, so Stegemann, die Abschaffung des Universalismus der Menschenrechte als „zivilisatorischer Standard, der gerade darum gilt, weil er unter Absehung von der individuellen Identität für alle gültig ist“. Es gehört zu den Ironien unserer Zeit, daß hier ein klassischer Linker zum Verteidiger eines Konzeptes wird, welches er bis vor kurzem dem amerikanischen Klassenfeind durchaus mit Recht vorgeworfen hat, als bloße Rechtfertigung zur Durchsetzung der eigenen globalen Hegemonie auch mit kriegerischen Mitteln zu instrumentalisieren. Heute beobachtet Stegemann mit Grausen, wie linke Identitätspolitik den Universalismus der Menschenrechte als „weißen Partikularismus“ zur angeblichen Unterdrückung schwarzer Menschen uminterpretiert. Dies führe zu einer bereits jetzt deutlich zu erkennenden Retribalisierung westlicher Gesellschaften, in denen das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts ersetzt.

So detailliert und präzise sich Stegemann mit linker Wutpolitik auseinandersetzt, so schablonenhaft bleibt seine Analyse des rechten Gegenparts. Diese sei nicht ernst zu nehmen, da sie von einem ursprünglichen ethnischen Reinheitsideal ausgehe, das in heutigen Gesellschaften wiederhergestellt werden solle. Hier konstruiert der Autor ein Feindbild, welches in dieser Form kaum mehr existiert. Rechte oder konservative Identitätspolitik – wenn man sie denn so bezeichnen möchte – geht vielmehr von organisch gewachsenen Gemeinschaften aus, die immer durch Einflüsse von außen verändert wurden, dies aber in einem vertretbaren Tempo unter steter Wertschätzung der eigenen historischen, kulturellen und mythischen Ursprünge. An dieser Stelle tritt der blinde Fleck des an Marx geschulten Materialisten zutage. Dennoch bleibt „Wutkultur“ zu empfehlen. Zu präzise sind seine Beschreibungen der Funktionsweise von Identitätspolitik, zu eindringlich seine Warnungen vor dem linken Wutfuror im Namen von „Diversität“ und „Gleichberechtigung“. Es ist auch aus konservativer Sicht zu bedauern, daß satisfaktionsfähiges linkes Denken à la Bernd Stegemann im Moment nur die Ausnahme bildet.

Bernd Stegemann: Wutkultur. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2021, gebunden, 100 Seiten, 12 Euro