© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/21 / 03. Dezember 2021

Der Balkan hat seine eigenen Standards
Ein engagierter deutscher Finanzwissenschaftler will am Aufbau des jungen Staates Kosovo mitwirken und endet desillusioniert
Harald Melzer

Mehr als 13 Jahre hat Martin Heipertz gebraucht, um den Bericht über seinen Einsatz im Kosovo in Deutschland über seine Zeit im Dienst der EU als Buch vorzulegen. In Serbien erschien das Buch bereits 2017 unter dem Titel „Macchiato Diplomatija“. Dabei sollte der Bericht vielen deutschen Journalisten, Welt- und Außenpolitikern zur Lektüre empfohlen werden. 

Der gebürtige Hesse geht 2008 in den Kosovo. Er will als Ökonom und Staatswissenschaftler den neuen Staat mit aufbauen. Voller Idealismus startet der Oxford-Absolvent, Corpsstudent und junge Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank in die junge Republik. Beim Anflug zieht Heipertz noch Parallelen aus seiner Militärzeit zu der österreichischen Armeeeinheit, die mit im Flugzeug sitzt. Bereits nach kurzem Aufenthalt beobachtet er, wie er sich zum „Macchiato-Diplomaten“ entwickelt bzw. entwickeln muß. Mit diesem Begriff bezeichnen sich die dort Arbeitenden untereinander, da dies neben Alkohol das Hauptgetränk der diplomatischen Verwaltungkräfte ist. Er muß erkennen, daß die spannende Aufgabe, einen Staat aufzubauen, ganz anders läuft, als er sich das vorstellt. Das sogenannte state building – die Implementierung von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft – wird von vielen Faktoren und Mitspielern bestimmt. Dem Reserveoffizier gelingt es, die Geschichte der Balkanregion mit den religiösen und regionalen Konflikten verständlich zu vermitteln. Lebendig schildert er das jahrhundertealte Familienwesen im Kosovo. Der Leser kann die schlecht verheilten Narben des Jugoslawienkrieges, der zivilen Morde und die empfundene Hilflosigkeit Heipertz’ nachvollziehen. Er macht zudem deutlich, wie sich die verschiedenen Organisationen gegenseitig auf die Füße treten. Man muß immer wieder im Abkürzungsverzeichnis am Ende des Buches nachschauen, um zu verstehen, daß die CBAK (Central Banking Authority of Kosovo) etwas anderes ist als die CBK (Central Bank of Kosovo) und auch als die EFAU (Economic and Fiscal Affairs Unit), das wirtschafts- und finanzpolitische Referat Heipertz’ im ICO (International Civilian Office/Internationale Überwachungsbehörde). Gleichzeitig gibt es die verschiedenen Kürzel der neugegründeten Parteien im Kosovo mit ihren Interessen und die verschieden UN-Organe, die ihr eigenes Süppchen kochen. Immer aufs neue führt Heipertz dem Leser vor Augen, daß oft gar keine Sparsamkeit oder Rechtsstaatlichkeit von manchen Seiten gewünscht ist. Mitunter kommt einem der Protagonist wie ein moderner Kara Ben Nemsi im Land der Skipetaren vor. Sei es bei seinem Kampf gegen die örtliche oder die internationale Bürokratie, deren Vertreter keine Gelegenheit verpassen, persönliche Vorteile zu ergattern oder sich in dem korrupten System zu bereichern. 

Wenn Heipertz hingegen die Natur und seine Ausflüge mit seinen Kollegen und Freunden beschreibt, gelingt es ihm, Sehnsucht zu wecken – Sehnsucht nach der Natur und den Bergen des Balkans, dem praktizierten Glauben in orthodoxen Klöstern und Sufi-Orden. Er beweist mit seinen emphatischen Schilderungen, daß er den Glauben an die Menschen nicht aufgibt. Den Glauben an  state building hat er jedenfalls verloren.

Martin Heipertz: Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen. Ein Bericht. Verlag zu Klampen, Springe 2021, gebunden, 360 Seiten, 30 Euro