© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

„Er sagt, was andere nur denken“
Was steckt hinter dem Phänomen Zemmour? Der Philosoph Alain de Benoist über den neuen rechten Herausforderer in Frankreichs Politik
Moritz Schwarz

Herr de Benoist, wird Éric Zemmour im Frühjahr Frankreichs nächster Präsident?

Alain de Benoist: Das glaube ich nicht, denn sollte er sich wider Erwarten im ersten Wahlgang am 21. April für die Stichwahl am 5. Mai qualifizieren, wird er – unabhängig davon wer sein Gegenkandidat sein wird – nicht wie benötigt über fünfzig Prozent der Stimmen auf sich vereinen können.

In den Medien heißt es, trotz aller Aufregung um ihn sei sein Stern schon wieder im Sinken. Stimmt das? 

Benoist: Laut Umfragen ist er von 17 Prozent auf nun elf Prozent gefallen. Doch das bedeutet nicht viel, denn bis zur Wahl können noch etliche Ereignisse und irrationale Momente ins Spiel kommen. Bisher wurden Präsidentschaftskandidaten, von denen man frühzeitig annahm, sie würden gewinnen, in der Regel doch geschlagen. Zemmour kann seinen Erfolg also ebenso fortsetzen wie abstürzen.

Er hat wichtige Anhänger wieder verloren, wie den Millionär Charles Gave oder die Rechtspolitiker Philippe de Villiers, Robert Ménard und Jean-Marie Le Pen.

Benoist: Das sind Einzelfälle. Gave hat die Angewohnheit, Kandidaten Geld zuzusichern, ohne sein Versprechen zu halten. De Villiers fürchtet um das Image der historischen Unterhaltungsshows, die er betreibt. Jean-Marie Le Pen ändert häufig seine Meinung. Und Ménard befürchtet, Zemmour könnte Marine Le Pen zum Verhängnis werden.

Es ist eine Sache, in Talkshows zu brillieren, aber etwas anderes, in der politischen Realität und den Niederungen des Wahlkampfs zu bestehen. Ist das der Grund dafür, daß er auf elf Prozent gefallen ist? 

Benoist: In der Tat, als Polemiker ist Zemmour ein Mann der klaren Worte, des Mutes und der Entschlossenheit. Aber es ist etwas anderes, die Franzosen davon zu überzeugen, daß er über eine präsidiale Statur verfügt. Im Gegensatz zu den Amerikanern wollen wir nicht von Geschäftsleuten oder Ex-Filmschauspielern regiert werden. Und die Qualitäten eines Autors und Polemikers sind nicht die gleichen wie die eines Staatsmannes. Doch hat er noch Zeit, um zu beweisen, daß er die beider besitzt. Allerdings, der tiefere Grund, warum Zemmour wohl nicht gewählt wird, ist meiner Meinung nach, daß er die Stimmen der Unterschicht nicht bekommt, die Marine Le Pen ihm vorzieht.

Wie ist das Phänomen Zemmour eigentlich zu erklären? 

Benoist: Éric Zemmour ist sowohl Schriftsteller, er verfaßt Romane und Essays, als auch Journalist. Er begann 1986 bei der Tageszeitung Quotidien de Paris, machte aber vor allem beim konservativen Figaro Karriere, dessen Popularität groß ist. Sein 2014 erschienenes Buch „Le suicide français“ (Der französische Selbstmord) verkaufte sich über 600.000mal. Zudem hat er sich seit 2003 im Fernsehen als einer der talentiertesten Debattierer etabliert. Seine täglichen Sendungen auf dem privaten Nachrichtenkanal C-News verfolgten fast eine Million Zuschauer. Er zögerte lange, bevor er sich in den Wahlkampf stürzte. Als er es dann doch tat, kam ihm seine Bekanntheit sehr zugute.

Aber was macht ihn aus? Was verkörpert er?

Benoist: Wie er selbst sagt, ist er ein „Jude berberischer Herkunft“ – das arabische „zemmour“ heißt „Olivenbaum“ –, der gerne erklärt, „Frankreich dafür zu segnen, daß es (seine nordafrikanischen) Vorfahren einst kolonisiert hat“. Er wuchs in sehr volkstümlichem Umfeld im Pariser Vorort Drancy, in einer soliden jüdisch-religiösen Kultur auf. So bezeichnet er sich als „jüdischen Franzosen“, nie aber als „Juden in Frankreich“. Politisch hat er lange seinen Weg gesucht. Bei der Präsidentschaftswahl 1981 stimmte er für den konservativen Sozialisten François Mitterrand, bevor er sich völlig umorientierte. Heute beruft er sich auf die „gaullo-bonapartistische“ Tradition, also auf General de Gaulle und die plebiszitäre Tradition des Bonapartismus.

Er beschreibt Frankreich als Land, das sich selbst aufgibt, dessen Substanz durch linksideologische Politik und Massenzuwanderung erodiert. Trifft er den Punkt? 

Benoist: Vieles an seinen Worten ist wahr. Deshalb erweckt er auch oft den Eindruck, laut zu sagen, was viele nur leise denken. Aber ich muß Sie korrigieren, den Niedergang führt er nicht auf „links­ideologische Politik“ zurück – die linken Parteien waren in Frankreich noch nie so schwach wie heute –, sondern auf eine Ideologie, der das ökonomische Modell des Marktes, die „Gender“-Rhetorik und die Weltsicht der bürgerlichen Rechten zugrundeliegt. Zemmour versäumt nie, zu behaupten, daß „es früher besser war“. Er sehnt sich nach der „Größe Frankreichs“, die für ihn 1815 bei Waterloo gefallen ist. In seinem jüngsten Buch „La France n’a pas dit son dernier mot“ (Frankreich hat das letzte Wort noch nicht gesprochen) propagiert er Assimilation und den Stopp der massiven außereuropäischen Einwanderung als Mittel zur Bewältigung der gegenwärtigen sozialen und identitären Krise.

Deshalb und wegen einiger seiner Äußerungen gilt er hierzulande als Rechtsextremer. Ist er das?

Benoist: Jene, die ihren Gegnern vorwerfen, „rechtsextrem“ zu sein, sind in der Regel nicht in der Lage, den Begriff zu definieren. Wie die, die Zemmour vorwerfen, „Faschist“ oder gar  „antisemitischer Jude“ (!) zu sein, sind sie Geisterjäger, die sich in der Zeit irren. In Frankreich ist „radikal“ nicht gleich „extremistisch“. Ja, Zemmour führt einen radikalen Diskurs, was offenbar der Grund für seinen relativen Erfolg ist. Manchmal aber droht er, in Extremismus abzugleiten. Etwa wenn er keinen Unterschied zwischen Islam und Islamismus sieht, und gleichzeitig versichert, nichts gegen „die Muslime“ zu haben. Die Leute verstehen nicht, was er meint. Einige werfen ihm auch vor, nur über Einwanderung zu sprechen, zu wirtschaftsliberal zu sein oder unter dem Einfluß seiner Lebensgefährtin und Wahlkampfleiterin Sarah Knafo zu stehen. Andere sind mit seiner Anklage gegen eine „Feminisierung der Gesellschaft“ nicht einverstanden.

Immer wieder „schießt“ er auch gegen Deutschland. Ist Zemmour ein Antideutscher? 

Benoist: Er ist kein „Antideutscher“ im eigentlichen Sinne. Aber er mag Europa nicht, außer dem Europa Napoleons. Wie viele französische Souveränisten beklagt er die Rolle der EU-Institutionen und meint, Deutschland habe da zuviel Gewicht.

Warum hat er überhaupt Erfolg, wo es doch schon das Rassemblement National mit Marine Le Pen gibt?

Benoist: Einige ihrer Wähler werfen Le Pen vor, sich zu sehr „entdämonisiert“ zu haben. Sie sind, ob zu Recht oder Unrecht, überzeugt, daß sie erneut nicht in der Lage ist, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Während Zemmour nicht nur prägnanter spricht, sondern auch den Reiz des Neuen hat.

Warum arbeiten die beiden nicht zusammen? 

Benoist: Sie stellen die entscheidende Frage. Denn die Gefahr ist, daß Zemmour Le Pen daran hindert, in die Stichwahl zu kommen, ohne daß er es selbst dorthin schafft. Dann könnte er als verantwortlich für die Wiederwahl Macrons oder die Wahl von dessen Gegner angesehen werden. Warum sie nicht zusammenarbeiten? Die Gründe dafür sind vielfältig: Da ist die Unvereinbarkeit ihrer Persönlichkeiten sowie die völlige Unterschiedlichkeit ihrer Wählerschaften: Le Pen wendet sich vor allem an Arbeiter, während Zemmour in erster Linie jene erreichen will, die er „patriotische Bourgeoisie“ nennt, wie ehemalige Wähler François Fillons, konservative Katholiken und Nationalliberale. Schließlich verfolgen sie nicht dieselbe Strategie: Zemmour will eine „Union der Rechten“, Le Pen das, was der Politologe Jérôme Sainte-Marie einen „Volksblock“ nennt, ein vom marxistischen Philosophen Antonio Gramsci entlehnter Begriff, der über die Rechts-Links-Spaltung hinausgeht. Immerhin haben die Republikaner als ihre Kandidatin nun Valérie Pécresse anstelle von Eric Ciotti nominiert. Das ist eher eine gute Nachricht für Zemmour. Denn Pécresse zielt auf die gleiche Wählerschaft wie Macron ab, während Ciotti Zemmour, dem er recht nahe steht – er hat bereits erklärt, daß er Zemmour Macron vorziehe –, Stimmen hätte abnehmen können.

Ist Éric Zemmour Frankreichs derzeitiger „populistischer Moment“? 

Benoist: Nein, er spricht die Arbeiterklasse zu wenig an, um Populist genannt werden zu können. Wer ihn so nennt, verwendet den Begriff ohne intellektuelle Präzision, in rein pejorativer Bedeutung.

Was ist dann „der populistische Moment“, den Sie als Zeichen unserer Zeit sehen? 

Benoist: Der Moment, in dem die klassische politische Klasse von rechts bis links, die seit mindestens vierzig Jahren in den meisten europäischen Ländern regiert, von Bewegungen herausgefordert wird, die behaupten, direkt „im Namen des Volkes“ zu sprechen – und deren Rechts-Links-Achse, die eine horizontale ist, durch die vertikale Achse des Populismus ersetzt wird: also durch eine Achse, die das Volk gegen die Eliten ausspielt, die „Peripherie“ gegen die globalisierten Metropolen, jene, die unter der Globalisierung leiden, gegen jene, die von ihr profitieren sowie die, die sich im dreifachen Zustand der Unsicherheit befinden – nämlich kulturell (Stichwort: Einwanderung), finanziell (Stichwort: Prekarität) und sozial (Stichwort: Deklassierung der Mittelklasse) –, gegen jene, die „hors-sol“, zu deutsch: entwurzelt, in der transnationalen Welt leben. Oder mit den Worten des Autors David Goodhart: die „Somewheres“ gegen die „Anywheres“.

Als eine Ursache dafür nennen Sie in Ihrem neuen Buch, daß die Linke „das Volk“ und die etablierte Rechte „die Nation“ aufgegeben habe.

Benoist: Hauptursache ist die wachsende Kluft zwischen Volk und Elite, die sich in einer beispiellosen Krise des Mißtrauens gegenüber Politikern, Institutionen, Journalisten und Medien manifestiert. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, belogen zu werden – etwa stimmt das, was sie in der Zeitung lesen, nicht mit dem überein, was sie im Alltag beobachten – sowie, daß ihre Wünsche ignoriert werden. Zunächst hat dieses Gefühl die Wahlenthaltung begünstigt. Nun, in einer zweiten Phase, begünstigt es die populistischen Bewegungen.

Sie sehen Populismus als Folge der Dysfunktionalität der Demokratie. Doch ist es nicht andersherum? Die Demokratie an sich funktioniert, sie wird nur durch eine gleichgerichtete politisch-mediale Elite lahmgelegt. Dagegen formiert sich Widerstand, der als „Populismus“ beschimpft wird – obwohl er tatsächlich eine Art „Immunreaktion“ der Demokratie ist, um die Lähmung durch die Elite zu verhindern. Dann aber wäre Populismus doch nicht Symptom des Endes der Demokratie, sondern Beginn ihrer Revitalisierung.

Benoist: Sie haben völlig recht – mein Buch aber falsch gelesen: Populismus ist nicht Folge der „Fehlfunktion der Demokratie“, sondern der Fehlfunktion – und Erschöpfung – der liberalen Demokratie, was nicht das gleiche ist. Die liberale, also parlamentarische, repräsentative Demokratie funktioniert und repräsentiert nicht mehr. Populisten kritisieren sie nicht, weil sie demokratisch ist, sondern weil sie nicht demokratisch genug ist! Deshalb sprechen sie sich häufig für eine direktere, partizipative Demokratie aus. Zudem und vor allem haben sie verstanden, daß „liberale Demokratie“ ein Widerspruch in sich ist. Denn Demokratie ist die souveräne Macht des verfassungsgebenden Volkes, Liberalismus dagegen die Verteidigung allein individueller Rechte. Der Staatsrechtler Carl Schmitt sagte, eine Demokratie sei um so demokratischer, je weniger liberal sie ist. Damit hatte er recht!

Welche Bedeutung wird der „populistische Moment“ in Frankreich und Deutschland noch entwickeln? 

Benoist: Ich spreche von „populistischem Moment“, um zu verdeutlichen, daß es sich um etwas vorübergehendes handelt. Wichtig ist zu verstehen, daß Populismus keine Ideologie ist, sondern ein Stil, eine Art und Weise, Politik zu machen. Deshalb sind Populismen auch so unterschiedlich. Er ist ein Phänomen, das für eine Zeit des Übergangs – ein Interregnum – charakteristisch ist. Eine Welt bricht zusammen, eine neue entsteht. Die Frage ist nur, ob wir sie rechtzeitig erkennen können.

In Europa leben zahlreiche Einwanderer, wie wird sich das im populistischen Szenario auswirken?

Benoist: Als ein wichtiger Faktor, denn die unteren Volksschichten sind jene, die am unmittelbarsten unter den Folgen der sozialen Pathologien leiden, die durch die massive, unkontrollierte Einwanderung hervorgerufen werden. Den jüngsten Umfragen zufolge haben 75 Prozent der Franzosen die Nase voll von der Einwanderung. Die Präsidentschaftskandidaten sind sich alle dessen bewußt.






Alain de Benoist, gilt als Begründer und ehemals führender Theoretiker der „Nouvelle Droite“. Der Philosoph hat bereits über hundert Bücher veröffentlicht, etliche davon auf deutsch, und ist Herausgeber der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis sowie ständiger Mitarbeiter des Magazins Eléments, für das er 2015 ein Streitgespräch mit Éric Zemmour führte, das auch in dieser Zeitung erschien. Am 16. Dezember erscheint sein neues Buch „Der populistische Moment. Die Rechts-Links-Spaltung ist überholt“ in der JF-Edition. Geboren wurde Alain de Benoist 1943 im zentralfranzösischen Tours.

Foto: Unabhängiger Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour auf der Auftaktveranstaltung seines Wahlkampfes am Sonntag in Villepinte bei Paris: „Nie versäumt er es, zu erwähnen, daß es ‘früher besser war’. Er sehnt sich nach der ‘Größe Frankreichs’, die für ihn 1815 bei Waterloo gefallen ist ... und beruft sich auf General de Gaulle und die plebiszitäre Tradition des Bonapartismus“