© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Mehr Femokratie wagen
Regierung: Scholz’ Kabinett ist vor allem eins – paritätisch
Jörg Kürschner / Christian Vollradt

Mit der Bildung der Ampelkoalition und seiner Wahl zum Bundeskanzler schickt sich der Sozialdemokrat Olaf Scholz an, der über Jahrzehnte dominierenden Kanzlerpartei CDU ihren natürlichen Bündnispartner FDP zu entfremden und sie als Daueropposition mehrheitsunfähig zu machen. Die Chancen dafür stehen gut, wollen doch alle drei Bewerber für den CDU-Bundesvorsitz eine „Brandmauer“ zur AfD ziehen. 

Zuletzt am vergangenen Wochenende auf dem Sonderparteitag hat der Merkel-Nachfolger deutlich gemacht, daß er nicht nur für vier Jahre Kanzler bleiben will. Selbstbewußt stellte sich der 63jährige in eine Reihe der „großen Kanzler der Sozialdemokratie“: Brandt, Schmidt, Schröder. „Wir stehen vor einem Aufbruch wie 1969“, als die SPD zum ersten Mal den Kanzler stellte. „Ein solcher Aufbruch soll uns wieder gelingen“. In 72 Jahren Bundesrepublik hat die SPD magere 20 Jahre den Regierungschef gestellt, die Union hingegen 52 Jahre. Der ewige Platz zwei – das Trauma der SPD.

Das sozialdemokratische Jahrzehnt einläuten soll eine Mannschaft, die streng nach Geschlechtern paritätisch besetzt ist (siehe Infokasten). Vier Frauen, drei Männer plus Kanzler. Da mußte Scholz in der Ministerriege noch eine Fehlstelle ausgleichen, da die FDP drei Männer und nur eine Frau für das Kabinett aufgestellt hatte. Dafür hatten die Grünen die Paritätsvorgabe mit drei Frauen und zwei Männern übererfüllt. Unter dem Strich gehören neun Männer und acht Frauen dem Ampel-Kabinett an. Vorbei die Zeiten als der nordrhein-westfälische Landesminister Friedhelm Farthmann (SPD) die Frauenquote mit deftigen Worten als „Tittensozialismus“ bezeichnete. Gehirn statt Geschlecht müsse entscheidend sein, befand der Burschenschafter. Das war 1992. 

Professoren gelten in der Politik als Risiko

Eine Überraschung stellte die Berufung der Hessin Nancy Faeser dar, die als erste Bundesinnenministerin für die Sicherheit zuständig ist. Die Juristin dürfte in dem stark unionsgeprägten Ressort auf einige Vorbehalte stoßen. Bei ihrer kurzen Vorstellung durch Scholz ließ sie keinen Zweifel an ihren Schwerpunkten aufkommen, „die größte Bedrohung, die derzeit unsere freiheitlich demokratische Grundordnung hat, den Rechtsextremismus, zu bekämpfen“. Diese Ankündigung der 51jährigen bisherigen hessischen SPD-Fraktionschefin stieß bei der oppositionellen AfD auf harsche Kritik. Ihre thematische Verengung auf das Thema Rechtsextremismus zeuge „von einer erschreckenden Blindheit gegenüber den strukturellen Problemen von islamistischer und Ausländer-Kriminalität, wie auch gegenüber extremistischen Gewalttaten von links“, kommentierte der innenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Gottfried Curio.

Keine große Unbekannte auf der politischen Bühne ist hingegen Christine Lambrecht, die bisherige Justiz- und seit Mai auch geschäftsführende Familienministerin, die ebenfalls aus Hessen stammt. Nicht aufgefallen ist sie allerdings als Verteidigungsexpertin. Die 56jährige hatte im Herbst vergangenen Jahres ihren Rückzug aus dem Bundestag angekündigt. Jetzt hat sie das Verteidigungsressort übernommen. Obschon fachfremd, fiel die Wahl auf sie als neue neue „Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt“ (IBuK). Zum einen weil sie eine Frau ist – das verlangte das zuvor gegebene Paritätsversprechen. Und anders als die Verteidigungspolitikerin Siemtje Möller verfügt Lambrecht über reichhaltige Erfahrungen in Sachen Ministeriumsleitung –zunächst als Staatssekretärin, später als Ressortchefin. Für das „Haifischbecken“ im Bendlerblock ist Scholz also auf jemanden mit Durchsetzungsfähigkeiten angewiesen. Daß Lambrecht anders als die „Seeheimerin“ Möller am linken Parteiflügel verortet wird und sich 2014 noch vehement gegen bewaffnete Drohnen bei der Bundeswehr ausgesprochen hatte, wird ihren Einstand bei der Truppe sicherlich nicht erleichtern. Klar ist auch: Den „Kampf gegen Rechts“ in der Bundeswehr (samt seinen eingepreisten Kollateralschäden) wird sie mindestens so vehement wie ihre beiden Vorgängerinnen führen. 

Und sonst? Die bisherige Umweltministerin Svenja Schulze wechselt in das Entwicklungshilferessort. Eine Wiederauferstehung erlebt das Bauministerium, das 1998 mit Beginn der Regierung Schröder/Fischer anderen Ressorts und zuletzt dem Innenministerium zugeschlagen worden war. Neue Amtsinhaberin ist seit Mittwoch die Potsdamerin Klara Geywitz, mit der sich Scholz vor zwei Jahren erfolglos um den Parteivorsitz beworben hatte. Direkt nach dem Politikstudium hatte sich die Ostdeutsche der Parteiarbeit zugewandt, wurde Landtagsabgeordnete und 2019 SPD-Bundesivize. Laut dem Rundfunk Berlin-Brandenburg wurde sie in jungen Jahren unter anderem in der „Hausbesetzerszene“ politisiert. 

„Die Sicherheit wird in dieser Regierung in den Händen starker Frauen liegen“, resümierte Scholz trocken. Und die Männer? Die Position von Arbeitsminister Hubertus Heil stand nie zur Disposition. „Er hat geliefert“, heißt es in der Fraktion mit Hinweis auf Mindestlohn und Grundrente. Scholz kündigte ihn als „Schlachtroß aus Niedersachsen“ an. Sein heimatlicher SPD-Bezirk Braunschweig gilt als eine der noch verbliebenen „roten“ Hochburgen. 

Mit Spannung war erwartet worden, wer Jens Spahn im wichtigen Gesundheitsministerium folgen würde. An Talkshow-Dauergast Karl Lauterbach kam Scholz offenbar nicht vorbei, obwohl Professoren in der Politik als Risiko gelten, parteiübergreifend. Der 58jährige Impfpflicht-Befürworter war früher mal in der CDU, gehört der SPD aber seit 2001 an. Im politischen Berlin schätzte man ihn lange Zeit als eher nicht-ministrabel, da kaum steuerbar ein. Doch dem Druck aus Partei und Öffentlichkeit, dem stets mit einer neuen Studie zu Corona um die Ecke kommenden Mediziner-Genossen das Ressort anzuvertrauen, mußte Scholz offenbar nachgeben. 

Kanzleramtsminister wurde wie erwartet der bisherige Finanzstaatssekretär Wolfgang Schmidt, Scholz’ engster Vertrauter. Insgesamt stellt die SPD sieben Minister plus Kanzler, die Grünen entsenden fünf Ressortchefs in die Regierung, die FDP vier. 

Mit eiserner Disziplin hatte die SPD ihre Kabinettsliste bis zum Wochenbeginn geheimgehalten. Was viele politische Beobachter irritierte, wohl aber der Autorität von Olaf Scholz zuzuschreiben ist. Mit fast 99 Prozent hatte der Sonderparteitag den Koalitionsvertrag gebilligt, bei den Ampel-Partnern fiel die Zustimmung geringer aus; die Liberalen kamen auf gut 92, die Grünen auf nur 86 Prozent, was wohl an dem wieder aufgeflammten Streit zwischen Realos und Fundis gelegen hat. Es wurde registriert, daß an der Urabstimmung nur 57 Prozent der Mitglieder teilgenommen haben; ungeachtet des Drangs, nach 16jähriger Opposition wieder Regierungsverantwortung zu tragen.

Schwere Zeiten für die Oppositionsfraktionen

Daß Regierungsbildung für die Opposition immer Saure-Gurken-Zeit bedeutet, hat in diesen Tagen insbesondere die machtverwöhnte CDU erfahren müssen. Sie machte mit internen Diskussionen über den neuen Vorsitzenden von sich reden; die Linke übte sich in ihrer Königsdisziplin, interne Streitigkeiten insbesondere über die künftige Rolle der einstigen Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Als die am vergangenen Wochenende auf dem Parteitag ihres Heimatverbandes Nordrhein-Westfalen über die Aufarbeitung der Bundestagswahl sprechen sollte, votierten die Delegierten mehrheitlich für die Absetzung des Tagesordnungspunkts. Begründung: Obschon Spitzenkandidatin, spiele sie keine besondere Rolle im Landesverband und bringe sich nicht in die Parteiarbeit ein. 

 Und die AfD? Die Fraktion hat seit der Wahl am 26. September Abschied nehmen müssen vom Status der größten Oppositionspartei im Bundestag und damit auch vom wichtigen Posten des Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, den Peter Boehringer seit 2017 innehatte. Die Fraktion hat sich zu bescheiden mit dem Vorsitz im Innen- und Gesundheitsausschuß sowie in dem für Entwicklungshilfe. Zudem muß der Fraktionsvorstand erst einmal einige interne Wogen glätten, nachdem sich Mitarbeiter über die Personalabteilung beschwert hatten und ein Abgeordneter sich ihre Vorwürfe in einem Schreiben an die Fraktion zu eigen gemacht hatte. Was wiederum bei anderen Abgeordneten für einiges Kopfschütteln gesorgt hatte. 





Weiblicher, westlich, aber nicht bayerisch

Sieben der 16 Ministerposten im neuen Kabinett plus den Bundeskanzler stellt die SPD, die bei der Bundestagswahl auf 25,7 Prozent kam. Die Grünen (14,8 Prozent) stellen fünf Minister, darunter den Stellvertreter des Bundeskanzlers, die FDP (11,5 Prozent) erhält vier Ministerien. Besonders stolz ist man, daß die Ampel die Spitze der Ministerien paritätisch besetzt hat. Alle vier sogenannten Sicherheitsressorts – Innen-, Verteidigungs- und Außenministerium – werden von Frauen geführt. Außerdem hat sich jede der beteiligten Parteien ihr „Lieblingsspielzeug“ gesichert. Die SPD das Bauministerium, das nun wieder eigenständig ist, plus das Arbeitsministerium. Die Grünen sind für Umwelt, Landwirtschaft und Klimaschutz zuständig und die FDP für Finanzen sowie Verkehr und Digitalisierung. Ungleich sieht es bei der regionalen Verteilung aus. Nur Brandenburg (Baerbock, Geywitz) und Sachsen-Anhalt  (Lemke) sind als „neue“ Länder vertreten, vier Kabinettsmitglieder kommen aus Nordrhein-Westfalen (Lauterbach, Schulze, Lindner und Buschmann), drei aus Hessen (Faeser, Lambrecht und Stark-Watzinger). Das Aussscheiden der Union aus der Regierung hat eine besondere Folge: Kein Minister kommt aus Bayern. 

Foto: Olaf Scholz (l.) stellt am Montag seine SPD-Minister vor: „Die Sicherheit liegt in den Händen starker Frauen“