Nach der Verschärfung der Corona-Maßnahmen ist vor der Verschärfung der Corona-Maßnahmen. Auf diesen einfachen Nenner ist das Agieren der Politik in der andauernden vierten Covid-19-Welle zu bringen. Dieses Phänomen läßt sich an der Halbwertszeit der Beschlüsse der Bund-Länder-Gipfel im Kampf gegen Covid-19 ablesen.
Am Donnerstag vergangener Woche hatten sich die Ministerpräsidenten der Länder mit dem damals noch designierten Bundeskanzler Olaf Scholz und seiner geschäftsführenden Vorgängerin Angela Merkel als Reaktion auf die bis dahin stetig steigenden Fallzahlen auf eine Verschärfung der Corona-Maßnahmen verständigt und die 2G-Regeln bundesweit deutlich ausgeweitet. Unabhängig von der Inzidenz vor Ort sollen nur noch Geimpfte und Genesene Zugang zum Einzelhandel haben. Lediglich in Geschäften des täglichen Bedarfs wie etwa Lebensmittelläden gelten die Regeln nicht, die von den Geschäften selbst kontrolliert werden müssen. Auch für Kinos, Theater und Gaststätten gelten nun verbindlich die 2G-Regeln, zusätzlich kann dort auch 2G-plus vorgeschrieben werden, bei der ein verpflichtender Test auch für Geimpfte und Genesene erforderlich ist. Ausnahmen bestehen unter anderem für Kinder und Jugendliche, die allerdings künftig wieder in allen Schuljahrgangsstufen Masken tragen müssen. Zudem hat sich der Bund-Länder-Gipfel auf Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte in allen Bundesländern geeinigt. Künftig dürfen sich Ungeimpfte nur noch mit den Mitgliedern des eigenen Haushalts und zwei weiteren Personen eines weiteren Haushalts treffen. Von der Regelung sind Kinder bis 14 Jahre ausgenommen.
„Bei hohen Inzidenzen darf es keine Tabus geben“
In Kreisen mit mehr als 350 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen einer Woche „müssen alle Kontakte reduziert werden“, heißt es in dem Beschluß. In diesen Regionen dürfen dann bei privaten Feiern und „Zusammenkünften“ in geschlossenen Räumen nur noch höchstens 50 Geimpfte oder Genesene zusammenkommen. Im Freien sind 200 Personen erlaubt. Welche Dynamik nicht nur das Infektionsgeschehen, sondern auch die mediale und politische Begleitung der vierten Welle hat, zeigt sich daran, daß die Diskussionen trotz der verschärfenden Beschlüsse vom vergangenen Donnerstag munter weiterging. So forderte etwa der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus, bereits am vergangenen Wochenende eine weitere Verschärfung der Maßnahmen. „In Gebieten mit hohen Inzidenzen muß man auch über befristete Kontaktbeschränkungen für Geimpfte nachdenken“, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Auch neue Schulschließungen brachte Brinkhaus ins Gespräch. Zwar müsse es das Bestreben der Schulminister sein, sie mit Maskenpflicht, Tests und Lüftung so lang wie möglich offenzuhalten. „Es darf aber für Regionen mit sehr hohen Inzidenzen keine Tabus geben.“ Er befürchte, daß die jüngsten Beschlüsse von Bund und Ländern nicht reichten, um die Welle zu brechen.
Der neue Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) riet unterdessen dazu, an Weihnachten zu Hause zu bleiben und auf Reisen zu verzichten. „Der Winter 2021 wird dramatischer als der Winter 2020. Wir dürfen Corona nicht auf die leichte Schulter nehmen“, sagte er der Bild am Sonntag. „Kontaktbeschränkungen auch im privaten Bereich sind wichtig, um die Pandemie zu bekämpfen.“ In der aktuellen Situation scheine es sinnvoller zu sein, „Weihnachten im kleinen Kreis zu Hause zu verbringen und keine größeren Reisen durchs Land zu planen“.
Ein Ziel wurde mit dem Bund-Länder-Gipfel indes nicht erreicht: Die angestrebte Vereinheitlichung der Regelungen zum Infektionsschutz in Deutschland gelang nur teilweise. So hält Baden-Württemberg etwa bei Großveranstaltungen an deutlich schärferen Maßnahmen fest, als von Bund und Ländern vereinbart. Während demnach an Veranstaltungen im Freien maximal 15.000 Menschen, in Innenräumen höchstens 5.000 Gäste teilnehmen dürfen, hat Baden-Württemberg Großveranstaltungen vorerst komplett verboten. Für andere Veranstaltungen, etwa Fußballspiele, gilt im Südwesten eine Obergrenze von 750 Besuchern. Zudem sind seit dem Wochenende Clubs und Diskotheken in Baden-Württemberg geschlossen. Das soll in allen Bundesländern der Fall sein, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz einen Wert von 350 erreicht. Anders als beispielsweise in Berlin, bleiben in Baden-Württemberg auch Weihnachtsmärkte geschlossen.
Noch weiter ist am Montag Sachsen gegangen. Der Landtag in Dresden hat mit einem Beschluß die epidemische Notlage für den Freistaat festgestellt. Die Staatsregierung unter Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) will mit dieser Notfallverordnung, die zunächst bis zum 12. Dezember gilt, Rechtssicherheit für eine Fortsetzung bestehender Schutzmaßnahmen und ihre mögliche Erweiterung erreichen. Sie schreibt bereits stärkere Einschränkungen als in vielen anderen Bundesländern vor. Eine weitere Verschärfung der Maßnahmen schloß die sächsische Regierung ausdrücklich nicht aus. Angesichts der anhaltenden Diskussion und des Drucks aus den Ländern scheint auch die Ampelkoalition zu weiteren Verschärfungen bereit. Diese könnten bereits an diesem Donnerstag auf einer neuerlichen Bund-Länder-Runde unter Führung des neuen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst (CDU), beschlossen werden. Wüst hatte Anfang der Woche die neue Bundesregierung zu Korrekturen bei den geltenden Corona-Regeln aufgefordert. „Der Regierungswechsel in Berlin darf nicht zu einem nachlässigen Blick auf die Pandemie führen“, sagte Wüst, der auch Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz ist, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Um den besonders betroffenen Ländern umfassende Schutzoptionen zu ermöglichen, ist es zwingend, daß Olaf Scholz seine zugesagten Nachbesserungen am Infektionsschutzgesetz nun auch in den nächsten Tagen konsequent umsetzt.“
Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) kündigte an, auf der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz über weitere Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte für die Zeit nach Weihnachten zu sprechen. „Klar ist, daß es über Weihnachten zahlreiche Familienkontakte geben wird. Die werden nach aller Erfahrung auch wieder für eine Reihe von Ansteckungen sorgen“, sagte Weil der Welt und brachte weitere Verschärfungen ins Spiel. Es sei eine Überlegung wert, ob man die Infektionsdynamik nicht durch eine begrenzte Auszeit abmildern solle.
Foto: Weihnachtsmarkt in Essen mit Zugangsbeschränkungen: „Der Winter 2021 wird dramatischer als der Winter 2020“