© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

„Ich hätte dich abgestochen ohne Gnade!“
Sexuelle Gewalt gegen Frauen in linksextremen Strukturen: Die Opfer sitzen in der Schweigefalle. Der Mainstream nimmt es nicht wahr
Martina Meckelein / Zita Tipold

Gibt es sexuelle Gewalt im linksextremistischen Milieu? Tummeln sich unter der heiligen Fahne der Antifaschistischen Aktion sadistische Vergewaltiger, brutale Schläger und perverse Spanner? Wer intensiver „Indymedia“, ein zentrales linksextremes Portal, verfolgt, dem fallen in letzter Zeit immer öfter Berichte auf, die an Fahndungsaufrufe erinnern. Linke Frauen warnen hier vor linken Männern. Mit Namen, bekannten Wohnorten und sogar Fotos. Doch die Beschuldigten stört das nicht, sie laufen weiter frei herum. In der linken Blase sind sie sicher, denn die Frauen zeigen ihre Peiniger nicht an. Eine Betrachtung über sexualisierte Gewalt, die eben kein Parteibuch und keine Ideologie kennt.

Der Vergewaltigungsfall war der Polizei gar nicht bekannt

„Update zu einem Vergewaltiger“, lautet die Überschrift eines Artikels, der am 13. Januar 2021 auf Indymedia erscheint, als Region wird Berlin angegeben. „Vor fast zwei Jahren, Ende Januar 2019, gab es eine Auseinandersetzung bei einer Party in der Köpi, bei der F. (Name von der Redaktion gekürzt) mit verschiedenen Vorwürfen konfrontiert wurde, die er direkt abgestritten hat“, steht dort als Eingangssatz. „Er hat über mehrere Jahre hinweg Frauen sexuell belästigt, war übergriffig und hat vergewaltigt. Unter anderem nutzte er den Umstand aus, daß mehrere Frauen unter dem Einfluß von Drogen (auch K.-o.-Tropfen) standen, welche sie nicht wissentlich konsumierten. Ob er sie selbst verabreichte, können wir nicht beweisen und sehen auch keine Notwendigkeit, dies zu tun.“ Der Mann wird in dem Text folgendermaßen beschrieben: Er habe viele technische Kompetenzen, weshalb er häufig für Events angefragt wurde. Er sei Tätowierer, mache Karate („Sporträume sollten auch Freiräume sein“) und studiere Architektur. Dazu gibt es ein Foto.

Bei solchen detaillierten Tat- und Täterbeschreibungen, sogenannten Outcalls, sollte die Polizei doch eingeschaltet sein und ermitteln. Zwei Tage später, am 15. Januar, stellte die JUNGE FREIHEIT bei der Berliner Polizei eine Presseanfrage: „Ist Ihnen der Fall bekannt? Haben vielleicht einige Geschädigte Anzeige erstattet? Werden Sie Ermittlungen einleiten? Wenn ja, gegen wen?“ Die Antwort kam postwendend. „Der von Ihnen übersandte Sachverhalt war der Polizei Berlin bislang nicht bekannt. Das für Sexualstraftaten zuständige Fachkommissariat des Landeskriminalamtes hat nunmehr von Amts wegen Ermittlungen gegen Unbekannt eingeleitet.“

Also erfolgte keine Anzeige. Ist sexuelle Gewalt ausgehend von der linken Szene denn überhaupt ein Thema für die Behörden? Während die Diskurse über extrem rechte Kreise ganze Regalmeter von Literatur füllen und zumeist linke Politikwissenschaftler jeden Stein in der Szene umdrehen und gerade die Rolle der Frau oder Männlichkeitsbilder in Wissenschaft und Öffentlichkeit immer wieder diskutiert werden, beispielsweise vor dem Hintergrund des Innenlebens des NSU, scheint sexualisierte Gewalt unter extremen Linken für Ministerien und Ämter unter dem Radar zu fliegen.

Wir fragten das Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Antwort: „Der von Ihnen geschilderte Sachverhalt fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich des BfV“, und empfiehlt, das Bundeskriminalamt zu kontaktieren. Das Familienministerium schreibt: „Bitte wenden Sie sich in diesem Anliegen an das zuständige Bundesinnenministerium bzw. Bundeskriminalamt.“ Das Bundeskriminalamt antwortete: „Der Bereich der Politisch motivierten Kriminalität – links – in all seinen Ausprägungen wird im Bundeskriminalamt bearbeitet. Zuständig ist die Abteilung ST (Polizeilicher Staatsschutz).“ Der Meldeweg sei folgender: Sofern die Länder den Straftaten eine politische Motivation zuordneten, würden diese über den „Kriminalpolizeilichen Meldedienst PMK“ dem Bundeskriminalamt gemeldet und dort im Rahmen der Zentralstellentätigkeit innerhalb der Abteilung ST begleitend bearbeitet.

Weiter heißt es in der Antwort, die Ermittlungszuständigkeit für diese Straftaten verbleibe dabei grundsätzlich in der jeweiligen Länderdienststelle. Sexualstraftaten, so sieht es das BKA, dürften überwiegend bei den zuständigen Behörden im Bereich der Allgemeinkriminalität verortet sein und dort bearbeitet werden. „Grundsätzlich gilt, daß nur Ereignisse, die der Polizei bekannt werden, auch polizeilich verfolgt werden können und die Polizei an alle Opfer sexualisierter Gewalt appelliert, sich an die für sie zuständige Polizeidienststelle oder die zuständige Kriminalpolizeiliche Fachdienststelle für Sexualdelikte zu wenden.“

Damit entledigen sich die Bundesbehörden ihrer Verantwortung. Denn zum einen verweisen sie auf das Meldeverhalten der Opfer sexueller Gewalt und zum anderen schieben sie die Verantwortung auf die untersten Polizeidienststellen ab – nämlich die Reviere und Inspektionen in den einzelnen Ländern.

Wenn es schon den Opfern sexueller Gewalt außerhalb eingeschworener politischer Milieus schwerfällt, die Täter anzuzeigen, wie muß es dann erst Frauen innerhalb des linken bis linksradikalen Spektrums gehen? Kämpfen sie doch mit jedem Atemzug gegen ein System, in dem „Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen in Zwangsanstalten, Diskriminierung und Ausbeutung“ verankert sind. Sollte „frau“ sich dann des verhaßten Repressionsapparates Polizei bedienen? Genau das tun die Opfer nicht. Und genau das ermöglicht den Tätern, trotz eines Outings weiterhin ihr Treiben fortzusetzen.

„Das alles ging monatelang so“, berichtet uns ein Opfer

Wie rauh der Ton im linken Milieu sein kann, zeigt auch der Fall von Magdalen (Name geändeert). „Ich hätte dich schon lange abgestochen, ohne Gnade“ oder „Wenn du der Welt etwas Gutes tun willst, dann wach morgen früh nicht mehr auf“, schreiben ihr Männer, die sich als Feministen bezeichnen. Der Grund für die Gewaltandrohung: Die junge Frau wagt es, die Glaubenssätze der eigenen Szene in Frage zu stellen.

Auf Twitter beschreibt sich Magdalen, die aus einer Arbeiterfamilie stammt, als „Marxistin und Radikalfeministin“. Doch Feminismus ist nicht gleich Feminismus. Alles steht und fällt mit dem Geschlechterbegriff. Während Magdalen für die Rechte und den Schutz von Frauen kämpft, erweitern ihre Kritiker die Kategorie um „Transfrauen“ und „Nonbinäre“, also Männer, die sich als Frauen identifizieren und Menschen, die sich nicht ausschließlich als männlich oder weiblich betrachten.

Weil die junge Frau sich der Doktrin des vom amerikanischen Diskurs geprägten „Queerfeminismus“ nicht beugt, gilt sie als Feind in den eigenen Reihen. „Mich überrascht es immer wieder, wieviel Haß ich als feministische Frau von anderen Linken kriege, während der politische Gegner (Liberale, Rechte etc.) verschont bleibt“, schreibt sie auf Twitter. Seit sie sich im März erstmals offen gegen diese Gender-Theorie ausgesprochen habe, werde sie als „Transfeind, Menschenfeind, rechts und Nazi“ diffamiert, erzählt Magdalen der JF.

„Davor war ich in der ‘woken’ Blase sehr beliebt.“ In der Debatte liege der Fokus nicht mehr auf Frauen, sondern auf „queeren“ Menschen. Ihre Kritik an dieser Entwicklung übertraf einen gewöhnlichen Shitstorm. „Ich bekam Hunderte Haßnachrichten und Drohungen. Es wurden gefälschte Nacktbilder von mir auf diversen Plattformen zusammen mit meinem Instagram-Namen verbreitet“, schildert die Politikstudentin.

Auf Twitter teilt sie regelmäßig Screenshots von den Drohbotschaften, die sie erhält. So schrieb ein Nutzer Anfang November: „Bei Gott, ich habe schon lange nicht mehr so das Bedürfnis gehabt, einer Person die Fresse einzutreten“, und man müsse seine „Schuhsohle beherzt auf ihrem Gesicht plazieren“. Magdalens Namen wolle er nur noch auf ihrer Beerdigung hören. „Das alles ging monatelang so, unter anderem weil ich mich nicht unterkriegen lasse und mit meiner Kritik weitergemacht habe“, führt sie aus.

Eine mögliche Ursache für die Vielzahl haßerfüllter Nachrichten, die sie von Männern erhält, sieht die junge Frau in deren vermeintlichem Geltungsbedürfnis. „Ich habe das Gefühl, es sind viele Männer, die nicht akzeptieren können, daß es im Feminismus nicht um sie geht. Gleichzeitig scheinen sie ein starkes Problem mit Frauen zu haben, die ihre Meinung nicht unterdrücken lassen.“ Über dieses Phänomen fehle in der feministischen Debatte aber jeglicher Diskurs.

Dabei mangelt es nicht an Betroffenheitsfloskeln und Solidaritätsbekundungen in der linken Szene, wenn Frauen über sexuelle Übergriffe berichten. Aber darin scheint es sich dann auch zu erschöpfen. Wobei nach Angaben des Berliner Verfassungsschutzes im linksextremen Milieu jeder dritte Anhänger weiblich ist. Die Behörde schätzt, daß etwa 35 Prozent der Berliner Linksextremisten Frauen seien, berichtete Die Welt im Juni. Zum Vergleich: In der rechtsextremen Szene beträgt der Frauenanteil 20 Prozent, in der islamistischen Szene zehn Prozent. Gleichheit sei ein klassisches Thema der Linken, und das gelte auch für die Gleichheit der Geschlechter, begründete Behördenleiter Michael Fischer den hohen Frauenanteil bei Linksextremen.

Offensichtlich ein Trugschluß. Die Linke unterliege einem historischen Paradigmenwechsel, insbesondere das marxistische Denken sei außer Kurs geraten, meinte der Extremismusforscher Rudolf van Hüllen in einer Stellungnahme für den Innenausschuß des Hessischen Landtags zum Thema „Linksextremismus – aktueller Status und mögliche Entwicklungen“.

Weiter schrieb der Politikwissenschaftler, daß nicht nur das „Proletariat“ als Identifikationsobjekt erledigt sei: „Die früher traditionell linke Idee des Kampfes um die Selbstbestimmung der Frau teilt fast zeitgleich dieses Schicksal: Die bekannten Vorfälle auf der Domplatte in Köln werden aus autonomer Sicht zu ‘Vergewaltigungsgerüchten über männliche Flüchtende’“; sie folgten „dem chauvinistischen Klassiker, den hiesigen Frauenkörper als nationalen zu denken, der von den selbsternannten VerteidigerInnen der Ordnung beschützt werden müsse“. Diese absurde Einschätzung spitzt die trotzkistische Gruppe „Marx 21“ weiter zu: „Weder Religion noch Herkunft können Sexismus erklären. Hilfreicher ist es, die strukturelle Unterdrückung der Frau im Kapitalismus in den Blick zu nehmen.“

Die Ortsgliederung der Linken-Nachwuchsorganisation Linksjugend Solid in Nürnberg-Fürth gibt vor, das Problem erkannt zu haben. Auf Twitter schrieb sie in schönstem Politikerdeutsch: „Wir müssen die Tabuisierung dieses Themas endlich brechen“, und: „Wir müssen Sexismus bekämpfen, immer und überall. Auch in linken Strukturen. Wie wollen wir eine ideale Gesellschaft aufbauen, wenn wir es nicht einmal schaffen, solche Probleme in unseren eigenen Reihen zu bekämpfen?“ Ja, wie?

Verhaltene Zeichen des Widerstands in der Szene

Der NDR berichtete im vergangenen Jahr über sexuelle Übergriffe mittels versteckter Spanner-Kameras in Toiletten auf einem linken Festival. Mindestens noch auf einem weiteren Festival mißbrauchte ein Täter ebenfalls Frauen derart. Konsequenzen? Keine.

„Es muß endlich klar sein: Wer in unseren Strukturen vergewaltigt, wird entfernt und dauerhaft in einen Zustand versetzt, in dem er (oder sie, fairerweise) nicht mehr in der Lage dazu ist, weiterhin zu vergewaltigen. Und ja, das schließt irreparable Gewalt gegen den Körper des Vergewaltigers ein“, schreibt eine empörte Kommentatorin auf Indymedia. Vielleicht schimmert darin ein Umdenken hervor, wenigstens bei einem kleinen Teil der Frauen in der Szene. „Wenn unsere Strukturen das nicht selbst leisten können, dann müssen wir deren Grenzen anerkennen und (so traurig das ist) dem Staat die Verantwortung dafür abtreten. Jemand, der eine von uns vergewaltigt hat, darf unter keinen Umständen in die Lage dazu versetzt werden, sein Tun zu wiederholen, das verlangt wirksamer feministischer Selbstschutz.“

In dem eingangs erwähnten Berliner Fall mußte das Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden: „Die Geschädigten konnten nicht ermittelt werden.“

Foto: Linke Frauen warnen auf Twitter vor sexuell übergriffigen Männern und berichten von Haß innerhalb der Szene (Mitte und unten); woker Twitter-Post der Linksjugend: Der Einsatz für Frauenrechte stört mittlerweile