© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Gefährliches Stirnrunzeln
Ost-West-Konflikt: Der Streit zwischen Washington und Moskau eskaliert / Belarus droht
Jörg Sobolewski

Die Einschätzung der US Geheimdienstler ist dramatisch. Über 175.000 russische Soldaten habe der Kreml rund um die Ukraine zusammengezogen. Darunter Panzer und schwere Artillerie, alles deute auf eine Vorbereitung „schneller, harter Schläge“ hin, schreibt die unbekannte Quelle aus dem CIA- Hauptquartier in Langley. Am Ende stünde, so das Papier, eine russische Eroberung der Ostukraine. 

Die russische Regierung weist die angeblichen Angriffspläne hingegen zurück, so habe man Truppen nur zusammengezogen, um „kriegslüsterne Teile“ der ukrainischen Regierung davon abzuhalten, die Erhebung in der Ostukraine mit Gewalt zu beenden. „Niemand hat Lust auf Krieg, aber wir wollen klarmachen: Denkt nicht einmal darüber nach, sonst machen wir euch platt“, zitiert die Financial Times eine anonyme Quelle aus dem russischen Verteidigungsministerium. Es ginge allein um „Containment“.

Kreml erzürnt über Nato-Osterweiterung 

Der Kreml macht für die jüngste Zuspitzung der Lage vor allem die US-Regierung und die Nato verantwortlich. Diese finanziere die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte und verfolge offen eine Politik der Nato-Osterweiterung. Aus russischer Sicht ein Verstoß gegen die Zusicherung aus dem Westen, nach der deutschen Wiedervereinigung das Militärbündnis nicht weiter als bis zur ehemaligen Zonengrenze vorrücken zu lassen. Auch die Ankündigung des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, die „Nukleare Teilhabe“ gelte auch für „unsere Verbündeten in Osteuropa“ im vergangenen Monat sorgte für Stirnrunzeln in Moskau. 

„US-Atomwaffen könnten in Osteuropa auftauchen“, verkündete die russische Nachrichtenagentur Tass, und der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko kündigte an, die Stationierung russischer Atomwaffen auf seinem Territorium zu ermöglichen. Er habe „die gesamte Infrastruktur für die Stationierung solcher Waffen beibehalten.“ Rußlands Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow bezeichnete die Äußerungen des Nato- Chefs als „unverantwortlich“, die Nato wolle einen „heißen Konflikt provozieren“. Die russische Position sei klar, man wolle „verbindliche Sicherheitsgarantien für die russischen Interessen, dazu gehöre auch der Verzicht auf eine Mitgliedschaft in der Nato für die Ukraine“. 

Die US-Regierung unter Joe Biden weist hingegen auf die Souveränität der Ukraine hin, diese habe jedes Recht, selber über ihre außenpolitische Zukunft zu entscheiden. Das US-Sicherheitsversprechen an die Ukraine sei in „Eisen geschlagen“, betonte der US-Präsident am Montag. Auf dem Tisch lägen neben weiteren Sanktionen, einer stärkeren finanziellen Unterstützung der Ukraine und Waffenlieferungen auch ein Ausschluß der russischen Föderation aus dem „SwiftNet“. Die „Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication“, abgekürzt Swift, ist eine belgische Organisation, die ein internationales Netzwerk zur Abwicklung von Finanztransaktionen betreibt. 

Ein Ausschluß der Russischen Föderation würde den weiteren Handel mit Partnern in Rußland für internationale Firmen deutlich erschweren. In der Vergangenheit hatte die Organisation stets darauf hingewiesen, selber keinen Ausschluß von Staaten zu betreiben. 

Die Rolle der Europäischen Union und damit auch ihrer wichtigsten Mitgliedsstaaten, Deutschland, Frankreich und Italien ist hingegen unklar. Aus russischer Sicht wird immer wieder auf ein sicherheitspolitisches Machtvakuum in Europa verwiesen. Besonders die Bundesrepublik sei aufgrund der desolaten Lage, der Bundeswehr überhaupt nicht in der Lage eine eigene Politik entwickeln zu können. Alles was man könne, sei „in Kiew anzurufen und um etwas zu bitten“, wie es der russische Sicherheitsexperte Andrey Sushentsov ausdrückt. Tatsächlich halten sich sowohl die französische als auch die deutsche Regierung auffällig zurück. Man sei dazu verpflichtet, die „Sicherheit und Stabilität in Europa“ zu sichern, verkündete Emmanuel Macron nach dem Telefonat am Montag. Konkrete Schritte kündigte er jedoch nicht an. Die designierte neue Außenministerin Annalena Baerbock hat nach Aussage der Regierung in Kiew noch keinen Kontakt aufgenommen. Man warte dort auf einen „Anruf aus Berlin“. Baerbock hatte sich im Wahlkampf gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen, ihr Kollege und künftiger Wirtschaftsminister Robert Habeck trat hingegen für eine Ausweitung der Unterstützung ein. In einer Pressekonferenz am Dienstag verknüpfte Habeck das Schicksal der Erdgaspipeline Nord Stream 2 mit der Situation in der Ukraine: „Nord Stream 2 ist nicht genehmigt. Wir werden noch mal politisch darüber reden, wie die außenpolitische Situation in der Ukraine und die europäische Möglichkeit zu deeskalieren zusammenwirken können.“ 

Neu-Bundeskanzler Olaf Scholz ergänzte, man bestünde „unmißverständlich auf der Unverletzbarkeit der Grenzen.“ Die künftige Bundesregierung setze weiter auf das sogenannte Normandie-Format aus Rußland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine. Nur im Gespräch miteinander könne „es gelingen, eine bessere Situation zu erreichen“, so Scholz. Rußland lehnt Gespräche in diesem Format bisher ab, da Kiew sich nicht an die Ergebnisse der letzten Vereinbarung gehalten habe, so Moskau.

Präsident Biden will „niemandes rote Linien“ akzeptieren 

Offiziell gibt man sich allerdings auch in den USA und Rußland zur Deeskalation bereit, in einer zweistündigen Videokonferenz zwischen Putin und Biden am Dienstag abend brachte der US-Präsident seine Hoffnung auf ein zukünftiges persönliches Treffen mit dem russischen Staatschef zum Ausdruck. Inhalte aus dem Videogipfel wurden bis  Redaktionsschluß keine bekannt.

Dennoch gilt eine schnelle Einigung der beiden Seiten für ausgeschlossen. Das liegt vor allem an den USA, denn für US-Präsident Biden kommt die Eskalation in der Ukraine zu einem schwierigen Zeitpunkt. Denn hinter dem russisch-amerikanischen Gegensatz in Osteuropa steht für Washington der deutlich größere chinesisch-amerikanische Gegensatz im Pazifik. Dort verlangt Peking von den USA ähnlich wie Rußland die Einhaltung roter Linien im Bezug auf Taiwan. Auch vor diesem Hintergrund verkündete der US-Präsident auf die Frage eines Journalisten am Montag nach der Situation in der Ukraine, er akzeptiere „niemandes rote Linien“.

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Foto: Matroschkas mit Wladimir Putin und Joe Biden (r.):  Ladenhüter werden beide in Moskau nicht werden