© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Bäumchen wechsel dich
Österreich: Rücktritte, Rochaden und ungeklärte Vorwürfe – die ÖVP sorgt in unserem Nachbarland für italienische Verhältnisse
Robert Willacker

Im Landtagswahlkampf hatte Oberösterreichs ÖVP-Regierungschef Thomas Stelzer noch vor „italienischen Verhältnissen“ gewarnt, sollten zu viele Parteien in den Linzer Landtag einziehen und damit eine stabile Regierungsbildung gefährden. Wenige Monate später schickt sich nun ausgerechnet die ÖVP-geführte Bundesregierung an, Italien als Synonym für mangelnde politische Stabilität den Rang abzulaufen, denn nach einer Reihe von Rücktritten an den Spitzen von ÖVP-Bundesministerien mußten am Montag nicht weniger als sechs Regierungsposten neu besetzt werden. Es ist die bereits zehnte Regierungsumbildung der vergangenen fünf Jahre.

Am Montag gelobte Bundespräsident Alexander Van der Bellen zunächst den bisherigen Innenminister Karl Nehammer als neuen Bundeskanzler an. Nehammer folgt auf Alexander Schallenberg, der nach nur 52 Tagen im Amt den Chefsessel im Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz räumt und zurück an die Spitze des Außenministeriums wechselt. Den freigewordenen Posten des Innenministers übernimmt künftig Gerhard Karner, langjähriger Landtagsabgeordneter und ehemaliger Landesgeschäftsführer der mächtigen ÖVP Niederösterreich. 

Ebenfalls zurückgetreten ist der bisherige Finanzminister und enge Vertraute von Ex-Kanzler Kurz, Gernot Blümel, der zusammen mit zahlreichen anderen Personen in der sogenannten „Casinos-Affäre“ rund um mutmaßliche Absprachen zu Personalbesetzungen im Glücksspielbereich von der Staatsanwaltschaft als Beschuldigter geführt wird. 

Die zahlreichen Rochaden der vergangenen Tage sind eine direkte Reaktion auf den angekündigten Rückzug von Sebastian Kurz als ÖVP-Parteichef und ÖVP-Fraktionsvorsitzender im Nationalrat. Der kürzlich als Bundeskanzler zurückgetretene Kurz hatte vor wenigen Tagen anläßlich der Geburt seines ersten Kindes angekündigt, sich nun vollständig aus der Politik zurückziehen zu wollen. Zeitlich fällt seine Verabschiedung ins Private mit sich stetig ausweitenden staatsanwaltlichen Ermittlungen zu mutmaßlichen Korruptionsaffären seines engsten Umfelds zusammen. 

Die Oppositionsparteien übten unisono Kritik an den Positionswechseln innerhalb der Regierung und orteten eine weitgehende Handlungsunfähigkeit. Für NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger haben „Vertrauen und Verläßlichkeit in die Politik gelitten“, da der Eindruck entstehe, daß es sich bei Regierungsämtern nur um eine „Verschubmasse“ für parteitaktische Spielzüge handeln würde. Für SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hat das Thema Corona und die derzeit durch Österreich schwappende vierte Infektionswelle zwar derzeit Vorrang, sie betont aber: „Nachdem diese Akutphase überstanden ist, muß diese Bundesregierung den Weg für Wahlen freimachen.“ 

Neuwahlen werden auch vehement seitens der FPÖ gefordert. Die stellvertretende Parteichefin  Marlene Svazek vertrat am vergangenen Sonntag in der ORF-Diskussionssendung „Im Zentrum“ die Auffassung, daß die Corona-Situation kein Hinderungsgrund für etwaige Neuwahlen sein dürfe: „Wenn jetzt geredet wird, wir brauchen im Lockdown keine Neuwahlen, dann müssen wir schon sagen, daß es ja auch Fristenläufe gibt.“

In der gleichen Sendung äußerten sich dann auch erstmals die Regierungsparteien in Gestalt der Fraktionsvorsitzenden August Wöginger (ÖVP) und Sigrid Maurer (Grüne) zu den aktuellen Turbulenzen und Neuwahlgerüchten. Beide betonten, daß die aktuelle Situation zwar herausfordernd und auch innerkoalitionär nicht friktionsfrei abgelaufen sei, man sich jetzt jedoch auf einem guten Weg in Richtung langfristiger Stabilität befinde und Neuwahlen derzeit kein Thema seien.

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