© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Die Inflation steigt und steigt
EZB-Geldpolitik: Werden die Ankaufobergrenzen für Staatsanleihen dennoch angehoben?
Dirk Meyer

Die Ratssitzung der Europäischen Zentralbank am 16. Dezember könnte einen Meilenstein setzen. Nicht nur, daß es die letzte Sitzung mit dem scheidenden Bundesbank-Präsidenten Jens Weidmann ist. Die EZB wird ihre neue Inflations-Prognose vorlegen. Bereits in der Experten-Umfrage der EZB wurden die Inflationserwartungen nach oben revidiert: Noch im Januar 2021 lagen diese für 2021, 2022 und 2023 im Durchschnitt bei 0,9, 1,3 und 1,5 Prozent. Im Oktober wurden die Prognosen auf 2,3, 1,9 und 1,7 Prozent angehoben. Laut einer Schnellschätzung von Eurostat kletterte die Preissteigerungsrate im November in der Eurozone auf 4,9 Prozent – im Juni betrug der harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) nur 1,9 Prozent.

In Deutschland lag die Inflationsrate nach Eurostat-Berechnung bei 6,0 Prozent. Spitzenreiter waren Litauen (9,3 Prozent), Estland (8,4), Lettland (7,4) und Belgien (7,1). Nur Portugal (2,7) und Malta (2,3) lagen noch unter drei Prozent. Haupttreiber waren die Energiepreise: Sie lagen in der Eurozone 27,4 Prozent höher als im November 2020. Was sind die weiteren Treiber der Inflation in Deutschland? Eine Reihe von Faktoren ist kurzfristiger Natur. So hat die Mehrwertsteuer­erhöhung zu Jahresbeginn die Inflation um etwa 1,2 Prozentpunkte angehoben – deshalb dürfte die deutsche Rate im Januar in gleicher Größenordnung wieder fallen.

Sodann spricht man von einem Basiseffekt, denn die Preise sind 2020 mangels Nachfrage infolge der Corona-Pandemie kaum gestiegen, teils sogar gesunken. Auch spielen Nachholeffekte bei Reisen und in der Gastronomie eine Rolle, deren Preise aktuell angezogen haben. Das Stillhalten der EZB hat zudem den Wechselkurs des Euro gegenüber dem US-Dollar oder dem Franken sinken lassen. Dies hat die Importe von Öl, Gas und weiteren Rohstoffen oder Konsumgütern zusätzlich verteuert – eine importierte Inflation. Einige preiserhöhende Einflüsse dürften auch langfristig wirksam bleiben.

Die Klimapolitik soll CO2-Emissionen verteuern, und damit steigen die Preise für Benzin, Diesel, Gas, Heizöl und Kerosin – und die für Transporte und Reisen. Die Lieferkettenprobleme könnten mittelfristig bestehen bleiben. Hinzu kommen wohl langfristige protektionistische Tendenzen in der Weltwirtschaft. Dies treibt die Preise für Importe wie Elektronikchips, Rohstoffe und Fertigwaren. Der angekündigte Mindestlohn von zwölf Euro verteuert nicht nur den „Niedriglohnsektor“. Er wird das gesamte Gehaltsgefüge nach oben ziehen, um Lohnabstände zu wahren.

Schließlich ist die demographisch bedingte Verknappung von Arbeitskräften bereits jetzt spürbar, von den nicht nur coronabedingten Bildungsdefiziten der jungen Generation ganz zu schweigen. Wesentlich für den zukünftigen Preisauftrieb ist schließlich eine drohende Entankerung der Inflationserwartungen. Indem EZB-Chefin Christine Lagarde den vorübergehenden Charakter des Preisanstiegs betont, Zinserhöhungen auf absehbare Zeit ausschließt und keinesfalls Entschlossenheit beim Erhalt der Geldwertstabilität zeigt, droht ein Vertrauensverlust und eine Einpreisung höherer Inflationsraten in die Tarifverhandlungen. Auch Abos und Mieten dürften steigen.

Corona-Ausnahmen ermöglichen die monetäre Staatsfinanzierung

Das Ergebnis wäre eine Lohn-Preis- bzw. eine Kosten-Preis-Spirale. Der Inflationsanstieg verselbständigt sich. Da eine Straffung der Geldpolitik mit einer Wirkungsverzögerung von 18 bis 24 Monaten verbunden ist, kommt einer Erwartungsbildung somit in doppelter Hinsicht eine wichtige Rolle zu. Welche Möglichkeiten bleiben der EZB? Generell kann Sie den Leitzins anheben oder die Geldmenge verknappen. Die beiden Anleihekaufprogramme (PSPP/PEPP; JF 25/21) summieren sich bis Oktober auf 4.083 Milliarden Euro. Zu 88 Prozent wurden Staatsanleihen aufgekauft. Die dafür ausgegebene Zentralbankgeldmenge entspricht etwa der Hälfte der EZB-Bilanzsumme und einem Drittel aller Euro-Staatsschulden. Je stärker die EZB ihre Vorhersagen nach oben korrigieren muß, desto wahrscheinlicher wird eine Beendigung des Pandemie-Notfallankaufprogramms (PEPP). Denn bei einer Leitzinserhöhung und Fortführung der zinssenkenden Anleihekäufe erhielten die Märkte widersprüchliche Signale.

Das Problem: Zum einen käme es zu Kursverlusten bei (Staats-)Anleihen, die die EZB selbst, aber auch Banken und deren Eigenkapital treffen würden. Zum anderen verteuert ein damit einhergehender Zinsanstieg die Neuverschuldung. Einige Eurostaaten sind hoch verschuldet: Griechenland (207 Prozent des Bruttoinlandsprodukts/BIP), Italien (156), Portugal (135), Spanien (123) und Frankreich (115). Zudem haben Banken Kredite langfristig zu niedrigen Zinsen vergeben und müßten jetzt Einlagen zur Refinanzierung höher verzinsen. Die Finanzmarktstabilität wäre gefährdet. Auch deshalb wird der EZB-Rat vorsichtig agieren.

Insbesondere wird die EZB bei einer planmäßigen PEPP-Beendigung (März 2022) auf die „gewohnte“ Flexibilität kaum verzichten wollen. Während das reguläre PSPP eine Ankaufobergrenze von 33 Prozent für jede einzelne Wertpapieremission (Emissionslimit) und für die Gesamtheit aller notenbankfähigen Schulden eines Emittenten (sprich: Eurostaates; Emittentenlimit) vorschreibt, waren diese Restriktionen für das PEPP entfallen. Zudem gelten hier auch griechische Schuldtitel als ankauffähig. Schließlich wurde die Orientierung der Ankäufe nationaler Schulden am EZB-Kapitalschlüssel, die eine Gleichbehandlung sicherstellt, aufgeweicht. Diese Regelungen dienen einer Sonderbehandlung notleidender Eurostaaten – die EZB ist EU-vertragsgemäß jedoch kein „Schuldenstaatenretter“.

Eine Übertragung dieser Corona-Lockerungen auf das PSPP wäre ein Dammbruch. So wurde das Emissionslimit von 33 Prozent damit begründet, daß die EZB im Fall der Überschuldung eines Staates und Verhandlungen über einen Schuldenschnitt kein Vetorecht mittels einer „Sperrminorität“ erhält. Dieses gewährt eine „Klausel über kollektive Maßnahmen“ (CAC-Klausel), die seit 2013 Vorschrift ist. Würde die EZB auf ihr Veto zu einem Schuldenerlaß verzichten, verstieße sie gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung. Insofern müßte sie eine Umschuldung ablehnen – was den „Schwarzen Peter“ beim Rettungsfonds ESM und der EU mit umverteilenden und der Gemeinschaftshaftung unterliegenden Eurobonds abladen würde. Der Corona-„Beistand“ würde zum Prinzip erhoben, die EU zur Fiskalunion mit Letztsicherung der Staaten. Die ursprüngliche Maastricht-Ordnung wäre dann völlig aufgehoben.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Foto: Thermostat an einer Heizung: Der gesunkene Wechselkurs des Euro hat die Importe von Öl, Gas und weiteren Rohstoffen zusätzlich verteuert