© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Schier endlose Kolonnen
IOM-Weltmigrationsreport 2022: Die Zahl der Wanderer zwischen den Welten wächst und wächst
Marc Zoellner

Es sind Bilder wie von einer Völkerwanderung: Gleich zu Tausenden waren vor zwei Wochen in Mexiko lebende Migranten, überwiegend junge Männer aus Lateinamerika, in der südmexikanischen Stadt Tapachula in einer scheinbar endlosen Kolonne aufgebrochen, um sich gemeinsam in das Gelobte Land der Vereinigten Staaten von Amerika zu begeben. Polizeihubschrauber umkreisten die kilometerlange menschliche Karawane; mexikanische Krankenwagen fuhren für Notfälle Spalier. 

„In Tapachula ist für Migranten kein Leben möglich“, begründet Atis aus Haiti seine Teilnahme an diesem Marsch. „Wir haben hier weder Arbeit noch Geld, um uns eine Unterkunft zu besorgen.“ In den USA erhofft er sich, wie viele seiner Landsleute, ein besseres Leben und vor allem eine gesicherte wirtschaftliche Existenz.

Atis ist einer von über 2,3 Millionen Migranten, die sich derzeit meist illegal in den zentralamerikanischen Staaten aufhalten – allein die Hälfte davon in den mexikanischen Grenzgebieten zu Guatemala im Süden sowie den USA im Norden. Die US-Regierung zeigt sich ihrer Aufgabe des Grenzschutzes seit geraumer Zeit kaum mehr gewachsen. Allein seit Oktober 2021, berichteten US-Medien unlängst, hätten die Behörden über 1,7 Millionen illegale Einwanderer beim Versuch der Grenzüberquerung verhaftet; für die USA ein neues trauriges Allzeithoch. 

Vor wenigen Tagen erst hatte US-Präsident Joe Biden das „Remain in Mexico“-Programm erneut ins Leben gerufen, welches von seinem Vorgänger Donald Trump im Januar 2019 begründet wurde, um Asylsuchende aus Zentralamerika auf der mexikanischen Seite der Grenze auf den gerichtlichen Bescheid ihres Antrags warten zu lassen, von Biden jedoch am ersten Tag seiner Amtsführung aufgrund „unmenschlicher Behandlung“ eingestellt worden war. Bidens Kehrtwende trifft in Mexiko auf Unverständnis. „Wenn ich die Wahrheit sagen darf“, beklagt einer der Organisatoren der Migrantenkarawanen im Interview mit dem US-Nachrichtenmagazin Newsweek, „wußten wir wenigstens, was wir an Donald Trump hatten. Mit Biden wissen wir das nicht. Er scheint keine Ahnung zu haben, was er hinsichtlich der Einwanderung machen soll, sagt einmal dieses und tut dann das Gegenteil davon.“

Flucht und Migration aus und in Lateinamerika sind einer der dementsprechenden Schwerpunkte des neuen „Weltmigrationsreports 2022“ der „Internationalen Organisation für Migration“ (IOM). Seit 1951 überwacht die im Schweizer Kanton Genf ansässige Organisation, die seit 2016 den Vereinten Nationen angegliedert ist, weltweit Migrationsbewegungen sowie Binnenstaatsvertriebene, die aus wirtschaftlichen sowie konfliktgebundenen Hintergründen resultieren. 

Der IOM-Mitarbeiterstab wuchs von 352 auf über 16.200 

Vor sechzig Jahren begründete die IOM die erste internationale Fachzeitschrift zum Thema; seit dem Jahr 2000 folgte dieser im Zweijahresrhythmus jeweils Anfang Dezember die Buchreihe des „Weltmigrationsreports“. „Beginnend als logistisch operierende Behörde, haben wir unseren Aufgabenbereich ausgeweitet, um die führende internationale Behörde zu werden, die in Zusammenarbeit mit Regierungen und Zivilbehörden das Verständnis über Migrationsangelegenheiten vorantreibt, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen durch Migration fördert sowie die Menschenwürde und das Wohlbefinden von Migranten hochhält“, erklärt die IOM in ihrer Selbstbeschreibung. Seit dem Gründungsjahr ist ihr Mitarbeiterstab zur Bewältigung diesbezüglicher Aufgaben von 352 auf über 16.200 angewachsen; das zur Verfügung stehende Budget gar von 26 Millionen auf fast 2,2 Milliarden US-Dollar. Ihr Vorsitzender ist seit 2018 der ehemalige stellvertretende Premierminister Portugals, der Sozialist António Vitorino.

Allein schon die nackten Zahlen zeugen von der gewichtigen Bedeutung des neuesten IOM-Reports: Noch nie zuvor unterlag die Welt größeren Wanderungsbewegungen als im vergangenen Jahr; und dies trotz der global grassierenden Covid-19-Pandemie. Für 2020 zählte die IOM weltweit mehr als 281 Millionen internationale Migranten, ganze neun Millionen mehr als noch 2019. Davon waren 135 Millionen Frauen, 146 Millionen Männer – insgesamt immerhin 3,6 Prozent der Weltbevölkerung. Die Sparte der Arbeitsmigration umfaßte 169 Millionen Menschen, die außerhalb ihres eigenen Geburtslandes lebten und arbeiteten. 

Auch die Zahl der Vertriebenen wuchs binnen eines Jahres um beinahe fünf Millionen auf 89,4 Millionen Menschen an. Rund 55 Millionen hiervon zählten als Binnenvertriebene im eigenen Staat; weitere 26,4 Millionen als Flüchtlinge und 4,1 Millionen als Asylsuchende in anderen Ländern. Geflohene Venezolaner, für die eine eigenständige Kategorie geschaffen wurde, erfaßte die IOM für 2020 mit 3,9 Millionen.

„Die Welt wird Zeuge eines Paradoxons, welches wir in der menschlichen Geschichte noch nie erlebt haben“, urteilt Vitorino über die Befunde des IOM-Berichts. „Denn während Milliarden von Menschen aufgrund von Covid-19 gewissermaßen gestrandet waren, wurden andernorts Millionen innerhalb ihrer eigenen Länder vertrieben.“ Für 2020 hatte die IOM in ihren Mitgliedsländern 108.000 nationale Gesetze zur Reisebeschränkung aufgrund der Pandemie zusammengetragen. 

Für den internationalen Flugverkehr bedeuteten diese Restriktionen einen Rückgang ihrer Passagierzahl von 4,5 Milliarden auf 1,8 Milliarden. Neben touristischen und geschäftlichen waren dabei auch viele mit Arbeitsmigration verbundene Flüge betroffen. So gingen allein die internationalen Überweisungen von Wirtschaftsmigranten in ihre Heimatländer, oftmals bedeutende Auskommensquellen der daheimgebliebenen Familienmitglieder, binnen eines Jahres um 17 Milliarden US-Dollar auf 702 Milliarden US-Dollar zurück. Lediglich Flucht- und Armutsmigration prosperierten weiterhin trotz des Coronavirus sowie der Reisebeschränkungen als Hemmschwelle.

„Es ist sehr wahrscheinlich“, mahnt der IOM-Report, „daß das Wachstum der Anzahl internationaler Migranten in den kommenden Jahren umso schwächer wird, je länger die internationalen Freizügigkeitsbeschränkungen in vielen Teilen der Welt aufrechterhalten werden.“ Dabei profitiere Migration heutzutage wie nie zuvor von den stattfindenden Umwandlungen in der sogenannten „vierten industriellen Revolution“ –, der Geo-, Umwelt- und der Klimapolitik sowie der globalen Ökologie. „Deren beispiellose Geschwindigkeit der Veränderung läßt manche Analysten bereits vom ‚Zeitalter der Beschleunigung’ sprechen“, kommentiert der vorliegende Bericht.

Industrienationen sind weiterhin der Magnet für Zuwanderer

Diese Umwandlungen treffen nicht zuletzt auch Deutschland und Europa: Mit einer nominellen Anzahl von 86,7 Millionen Einwanderern bleibt Europa weiterhin begehrtester Zielkontinent im Weltvergleich, dicht gefolgt von Asien mit 85,6 Millionen sowie den klassischen Einwanderungsländern in Nordamerika mit 58,7 Millionen Migranten. Wenig verwundernswert fungieren vor allem hochentwickelte Industrie- und Dienstleistungsnationen als Magnet für Zuwanderung: Allen voran die USA mit über 50 Millionen Menschen, was einen Migrationsanteil von derzeit gut 15 Prozent an der Gesamtbevölkerung ausmacht. Gleich auf Platz zwei folgt Deutschland mit 15,8 Millionen Einwanderern sowie einem Ausländeranteil von 18,8 Prozent. 

Überraschend auf Platz drei – das Königreich Saudi-Arabien, deren 13,5 Millionen Arbeitsmigranten mittlerweile gut 40 Prozent der Gesellschaft formen. In den Staaten des Persischen Golfs finden sich gar Migrationsanteile von 55 (Bahrain) bis 88 Prozent (VAE). Auch in Ostasien dominieren traditionelle Industrie- und Tigerstaaten von Japan über Südkorea bis Malysia die Einwanderungswellen. Allein die Sonderverwaltungszone Hongkong zählt mit drei Millionen Migranten das Dreifache des kompletten chinesischen Festlandes.

Bei seiner Gründung im Jahr 1951 sah sich die IOM, damals noch unter dem Namen „Provisorisches Zwischenstaatliches Komitee für die Auswanderung aus Europa“ (PICMME) firmierend, für die Wiederansiedelung der damals noch elf Millionen Menschen zählenden Kriegsflüchtlinge des Zweiten Weltkriegs zuständig. Noch immer betrachtet die IOM die Organisation und Finanzierung von Strukturen zur freiwilligen Rückkehr im Ausland gestrandeter Flüchtlinge sowie die Aufklärungsarbeit gegen Menschenschmuggel als wichtige Säule ihrer Betätigung. 

In den Vorjahren machte sich die IOM dabei mit Rettungseinsätzen beispielsweise in der Sahara einen Namen (JF 18/18); diesen Herbst in Gemeinschaftsarbeit mit dem „Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen“ (UNHCR) sowie dem Weißrussischen Roten Kreuz bei der Rücksiedelung von nach Weißrußland geflogenen Migranten. 

Von letzteren gut 7.000 Personen hätte zwar „nur eine geringe Anzahl bislang ihren Wunsch zur freiwilligen Rückkehr [in den Irak] zum Ausdruck gebracht“, konstatierte die IOM Ende November in einer Pressemeldung. Doch immerhin 44 Menschen konnte die IOM zur Rückkehr verhelfen, „mit weiteren 38 Leuten in der Warteschlange.“

 https://publications.iom.int

Foto: Migranten aus Lateinamerika im mexikanischen Städtchen Tapachula auf dem Weg zur US-Grenze: US-Präsident Joe Biden sagt „No“