© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Der große Sezierer
Literaturhistorie: Vor zweihundert Jahren kam der französische Romancier Gustave Flaubert zur Welt / Zu Lebzeiten wurde der Autor von „Madame Bovary“ verkannt und angefeindet
Dietmar Mehrens

Gustave Flaubert gehört zu denjenigen Autoren, die es geschafft haben, in das ikonographische Gedächtnis der Franzosen einzudringen. Allerdings als Karikatur. Sie zeigt den Sohn eines Chefchirurgen und einer Arzttochter, der als Schriftsteller stilprägender Romane in den Olymp der Weltliteraten aufsteigen sollte, bei der Arbeit: der Autopsie seiner berühmtesten literarischen Figur. Madame Bovary, auf dem Tisch einer Pathologie liegend, ist nur an den hochhackigen Schuhen erkennbar, die von hinten in das Bild hineinragen, das der große Sezierer dominiert. Der Mann mit dem langen Zwirbelschnurrbart trägt Kittel und eine Schürze voller Operationsbesteck. In der linken Hand hält er ein Seziermesser, aufgespießt darauf: das bluttriefende Herz der toten Madame, das der Pathologe mit kalten, teilnahmslos-analytischen Augen anblickt. 

Um so dargestellt zu werden, muß man schon einiges geleistet haben. Der Karikaturist der Satirezeitschrift La Parodie hat damit – und das verhalf der Zeichnung von 1869 (der Roman war da schon zwölf Jahre alt) zu zeitgeschichtlicher Relevanz – das einzigartig Neue in ein sprechendes Bild verwandelt, das Flaubert in der Literatur verankerte. Auch seine Zeitgenossen Stendhal und Balzac hatten sich in ihren Romanen des französischen Realismus tief in die Psyche ihrer Figuren eingefühlt. Flaubert jedoch trieb die Introspektion mit dem Stilmittel der erlebten Rede auf die Spitze. Kein Detail blieb dem Leser vorenthalten, wenn er seine Madame Bovary auf Seelenreisen schickte, wenn er die verhängnisvolle Wirkung der Kitschromane beschrieb, die die Klosterschülerin verschlang und so in eine Scheinwelt eindrang, die ihr Gemüt zerrüttete.

Die so genährte Sentimentalität treibt die unzufrieden verehelichte Frau eines Landarztes später in die Arme von Liebhabern, auf die kein Verlaß ist, und von Geschäftemachern, die wie der Wucherer Lheureux ihre romantischen Träumereien selbstsüchtig zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen wissen. Der selbstverliebte Verführungskünstler Rodolphe, der kunstverständige Notariatsangestellte Léon, der areligiöse Apotheker Homais und ihr materialistischer Gläubiger Lheureux: sie alle sind Nägel des Sargs, in dem die durch unstillbare Sehnsüchte in einen vernichtenden Abwärtsstrudel geratene junge Frau schließlich liegen wird.

Sich selbst verordnete der Autor bei der Darstellung dieser Tragödie eine strikte „Neutralität“ und „Ungerührtheit“. Auf französisch klingt das natürlich viel poetischer: Flaubert prägte die Schlagwörter impartialité und impassibilité als neue Tugenden einer Kunst, der er „durch eine unerbittliche Methode die Präzision der Naturwissenschaften zu verleihen“ trachtete – der Schriftsteller als Mikroskop. Wie später der ihm nacheifernde Émile Zola steht Flaubert unter dem Einfluß des Positivismus, jener philosophischen Lehre, in der die Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts ihren zeitgeistigen Niederschlag fand. Literatur sollte nun vor allem authentisch sein, Wirklichkeit abbilden.

Anschaulich beschreibt Stefan Zweig, ein großer Kenner des europäischen realistischen Romans, diesen Wandel vom Fabulieren zum Recherchieren in „Drei Meister: Balzac – Dickens – Dostojewski“: „Flaubert destilliert in der Retorte seines Gehirns 2.000 Bücher aus der Pariser Nationalbibliothek, um das Naturkolorit der [...] Salammbô zu finden, Zola läuft drei Monate [...] wie ein Reporter mit dem Notizbuch auf die Börse, in die Warenhäuser und Ateliers, um Modelle abzuzeichnen, Tatsachen einzufangen. Die Wirklichkeit ist diesen Weltabzeichnern eine kalte, berechenbare, offenliegende Substanz. Sie sehen alle Dinge mit dem wachen, wägenden, tarierenden Blick des Photographen. Sie sammeln, ordnen, mischen und destillieren, kühle Wissenschaftler der Kunst, die einzelnen Elemente des Lebens und betreiben eine Art Chemie der Bindung und Lösung.“

Der Positivismus bewirkte, ähnlich wie gegenwärtig das Phänomen der Digitalisierung, einen einzigartigen Qualitätsumschlag in der Wahrnehmung der Welt, für den man Flauberts Werk als Indikator betrachten kann. Zum Literatur-Jupiter wurde er aber nur, weil er zudem ein begnadeter Wortartist war.

Auch wenn „Madame Bovary“ (Untertitel: „Sitten der Provinz“) den Weltruhm des akribischen Analytikers begründete, er selbst und nicht wenige Literaturkritiker hielten seine „Lehrjahre des Gefühls“ (1869), an denen er schon als junger Mann arbeitete, für sein bestes Werk. Der Originaltitel „L‘Éducation sentimentale“ verweist deutlicher als die deutsche Übersetzung auf eine Hauptfigur, die an ähnlichen Symptomen leidet wie Emma Bovary: ausufernde Sentimentalität, unheilvoller Schwarmgeist.

Auch der junge Frédéric Moreau, der 1840 nach Paris kommt, um hier seinen Weg zu machen, ist nämlich ein Blatt im Wind der Gefühle, sensibler und begeisterungsfähiger, als einem aufstrebenden jungen Mann guttut. Kein Wunder also, daß er wie seine literarische Schwester, von der Flaubert einmal sagte: „Madame Bovary – das bin ich“, in eine ehebrecherische Schwärmerei verfällt: Madame Arnoux, die Frau eines Kunsthändlers im Boheme-Viertel Montmartre, hat es ihm angetan.

Wie bei Emma Bovary tritt später eine zweite Liebschaft hinzu: Die Kurtisane Rosanette, ein früher Prototyp der Nana aus Zolas gleichnamigem Roman, verdreht ihm den Kopf. Stärker als in Madame Bovary treten in Lehrjahre des Gefühls außerdem die politischen Rahmenbedingungen des Erzählten in den Vordergrund. Der Roman spielt in den Jahren vor der Revolution von 1848.

Vor allem aber verrät das Buch mehr über seinen Verfasser als jeder andere Roman, auch wenn Flauberts Madame-Arnoux-Erlebnis, als der Roman erschien, schon ein paar Jahre zurücklag: Als junger Mann hatte ihm im Sommer 1836 in Trouville-sur-Mer eine begehrenswerte junge Dame sein Herz gestohlen. Daß sich eine aussichtslose Liebe in große Literatur verwandeln läßt, hatten vor dem Romancier aus Rouen schon eine Reihe anderer Autoren demonstriert. Autobiographisch ist auch Frédérics Verwicklung in die Straßenkämpfe von 1848, mit deren Ausbruch die äußere Handlung von „Lehrjahre des Gefühls“ ihren Höhepunkt erreicht. Freunde des jungen Helden sind darin verwickelt, und ausgerechnet der von ehrenwertem Ehrgeiz für die Republik angetriebene Idealist Dussardier wird brutal ermordet. 

Wie seine Hauptfigur war Flaubert Anfang der vierziger Jahre nach Paris gekommen, um zu studieren. In die väterlichen Fußstapfen des Chefchirurgen am Hôtel-Dieu von Rouen zu treten, blieb ihm allerdings erspart. Das hatte bereits sein hochbegabter älterer Bruder Achille übernommen. Zum Militär mußte der junge Gustave auch nicht. In dem ihm verordneten Jurastudium zeigt er sich jedoch genauso antriebsschwach wie sein Alter ego Frédéric und taumelt lieber durch die Pariser Boheme. Er trifft den Bildhauer James Pradier, die Schriftsteller Maxime Du Camp und Victor Hugo.

Nach einem epileptischen Anfall kehrt er ohne Abschluß in die Normandie zurück, wo er im Juni 1844 in dem kleinen Ort Croisset bei Rouen ein Domizil bezieht, das ihm sein Vater finanziert hat. Hier kann er sich seiner nun nicht mehr heimlichen Leidenschaft, dem Schreiben, widmen und seine Paris-Erlebnisse in der ersten Fassung von „L‘Éducation sentimentale“ verarbeiten.

1846 wird zum Schicksalsjahr: Es versterben binnen weniger Wochen sein Vater und seine kleine Schwester. Mit dem ihm hinterlassenen Erbe kann Flaubert sich fortan, weitgehend unbedrängt durch finanzielle Engpässe, seinen literarischen Ambitionen hingeben.

„Madame Bovary“, ab dem 1. Oktober 1856 zunächst in der Revue de Paris in Fortsetzungen veröffentlicht, macht ihn berühmt, aber auch zum Objekt feindseliger Attacken. Obwohl einige anstößige Szenen bereits gegen den Willen des Dichters herausgekürzt worden waren, handelte er sich mit seinem Porträt einer Ehebrecherin eine Anklage wegen „Verstoßes gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion“ ein. Daß das damalige Moraldurchsetzungsgesetz nicht immer erfolglos zur Anwendung kam, bewies, ebenfalls 1857, die Verurteilung Charles Baudelaires, der Flauberts Skandalbuch verehrte. Anders als der Autor der „Blumen des Bösen“ war sein Kollege aber in einflußreichen Kreisen gut vernetzt: Freispruch. In der Buchfassung waren sogar die prophylaktisch entfernten Szenen wieder drin.

Mit seinem großen historischen Roman „Salammbô“ (1863) über einen Söldneraufstand gegen Karthago nach dem ersten Punischen Krieg nahm der akribische Wühler die nächste Herkulesaufgabe in Angriff. Salammbô ist der Name einer heidnischen Priesterin. Fünf Jahre Quellenstudium und eine Reise zu Originalschauplätzen in Nordafrika im Frühjahr 1858 gingen der Publikation voraus. Die Kritik reagierte verhalten. Wie „Lehrjahre des Gefühls“ erlangte das monumentale Werk erst nach dem Tod des Autors die verdiente Anerkennung.

Einen weniger zeitraubenden Einstieg in die Kunst des Chirurgensohns aus Rouen bieten die zu der Sammlung „Trois contes“ gebündelten Novellen. Sie wirken, als wollte Flaubert seinen Lesern nach den Frustrationen, in die seine großen Romane sie stürzen konnten, durch Erbauungslektüren etwas Luft zum Atmen geben, Eine selbstlos sich aufopfernde Dienerin, die am Ende ihres Lebens dem Heiligen Geist in Gestalt des von ihr vergötterten Papageis Loulou entgegengeht, der Tierquäler und Tiermörder Julian, der, durch ein Schockerlebnis zur Buße geleitet, zum barmherzigen Samariter wird, sowie Herodes Antipas, seine Gattin Herodias, Salome und Jochanaan (Johannes der Täufer) sind die Hauptfiguren der drei Erzählungen „Ein schlichtes Herz“ (1876), „Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien“ (1876) und „Herodias“ (1877), die der Band vereinigt. Sie zeigen wie der Roman „Die Versuchung des heiligen Antonius“ (1874) einen Flaubert, der seine christliche Erziehung trotz des Einflusses des Positivismus nicht abgestreift hat wie einen löchrigen alten Strumpf, sondern Glaubensinhalte in Ehren hält.

Einen Einstieg in Flauberts berühmtesten Roman bietet die sehr originalgetreue Verfilmung „Madame Bovary“ (1991) mit Isabelle Huppert in der Titelrolle. Regie führte Claude Chabrol, wie der Autor der Vorlage ein leidenschaftlicher Gesellschaftskritiker.

Am 7. Mai 1880 erlag der schon zu Lebzeiten Legendäre einer Hirnblutung. Sein letzter Roman, die Satire „Bouvard und Pécuchet“, blieb unvollendet. An seinem Grab standen neben vielen anderen Großen ihrer Zeit sein geistiger Ziehsohn Guy de Maupassant und der große Naturalist Émile Zola. Zwei Flaubert-Erben, deren Werk ohne den prägenden Einfluß des Arztsohns aus der Provinz ein anderes geworden wäre.

Gustave Flaubert: Madame Bovary. Roman. Diogenes, Zürich, broschiert, 464 Seiten, 13 Euro

Foto: Gesellschaftskritiker Gustave Flaubert (1821–1880), Karikatur von Eugene Giraud; Isabelle Huppert als „Madame Bovary“ in der Verfilmung von Claude Chabrol, 1991