© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Koordinaten des Unerkundbaren
Antje Rávik Strubels Roman „Blaue Frau“ handelt von einer Vergewaltigung und der Erfahrung mit totalitären Systemen
Regina Bärthel

In ihrem Roman „Blaue Frau“, mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet, beschreibt Antje Rávik Strubel den zerstörerischen Einfluß einer Vergewaltigung auf die persönliche Entwicklung einer jungen Frau. Die Autorin bleibt dabei keiner reinen #metoo-Debatte verhaftet, sondern zeigt Parallelen zum Zwang in totalitären Systemen auf. 

Die Handlung ist rasch erzählt: Eine junge Frau verläßt ihren Geburtsort in der tschechischen Provinz, um in Berlin Deutsch zu lernen. Während eines Praktikums in der Uckermark wird sie vergewaltigt und flieht gen Norden, wo sie in Helsinki eine Beziehung zu einem sensiblen, gutsituierten Mann beginnt. Alles könnte sich zum Besseren wenden, doch läßt sie die Stimme ihres Vergewaltigers, die sie auf einem Empfang hört, erneut die Flucht ergreifen. Sie bricht alle Kontakte ab und geht in die innere Emigration.

An diesem Punkt beginnt der Roman, begegnet der Leser der jungen Frau namens Adina zum ersten Mal. Sie hat Zuflucht in einer Plattenbauwohnung in Helsinki gefunden und tastet sich langsam, durch die sprachliche Benennung der Dinge, an die Wirklichkeit heran. Denn eins war ihr bereits vor der Ankunft in Finnland bewußt: So wie die Pole wandern und „die Zuverlässigkeit jedes Koordinatensystems in Frage“ stellen, so sind auch ihre eigenen Bezugspunkte verrutscht.

Meisterlich versteht es Antje Rávik Strubel in diesem ersten Teil des Buches, eine sogartige Spannung aufzubauen durch eine Sprache, die auf tiefer liegende Schichten, auf noch Unbekanntes verweist. Zeitsprünge und Rückblicke bilden gleichsam ein Netz, in dem sich Fragmente der Geschichte Adinas sammeln. 

Die Protagonistin durchlebt verschiedene Identitäten

Zunächst die jüngste Vergangenheit, die Zeit mit. Der estnische Politikprofessor und EU-Diplomat arbeitet gegen die Hierarchie zwischen West- und Osteuropa an. Der Westen, so Leonides, sei ein Verbündeter der Sowjetunion gewesen, habe mit der Diktatur nebenan kollaboriert: „1968 trugen Demonstranten in Frankfurt und Paris stolz jene Köpfe auf Transparenten durch die Straßen, die dafür verantwortlich waren, daß in Prag auf Demonstranten geschossen wurde.“ Ein einiges Europa kann nach seiner Auffassung erst dann entstehen, wenn der Gulag ebenso als Teil einer gesamteuropäischen Geschichte geächtet werde wie Auschwitz. 

In beider Herkunft aus den ehemaligen Ostblockstaaten erkennt Leonides Gemeinsamkeiten zwischen sich und Adina, immerhin Enkelin eines Partisanen. Die junge Frau weist dies jedoch von sich: Das Trauma, das eine tiefe Wunde in ihre Identität gerissen hat, ist ein anderes, rein persönliches. Sie will keine Nähe, verschweigt die Vergewaltigung. So wird sie für ihn zu Sala, der Geheimnisvollen.

Es sind eben diese Fragen nach Identität, nach Selbstentwürfen und deren Verwirklichung oder Verhinderung, die den Roman wie ein roter Faden durchziehen. Adina durchlebt im Verlauf der Erzählung verschiedene Identitäten; mal selbst gewählte, mal von außen kommende: In Harrachov im tschechischen Riesengebirge war sie der einzige Teenager, die letzte ihrer Art. Mangels realer Freunde fand sie die benötigten Seelenverwandten in einem Chatroom – unter dem Pseudonym Letzter Mohikaner. Diese Figur, an den Romanklassiker des amerikanischen Schriftstellers James Fenimore Cooper erinnernd, bleibt ihr noch undefiniertes Ideal und zugleich ein innerer Begleiter, der ihr Selbstgewißheit und Stärke vermitteln soll. Ihr Vertrauen gewinnt nur, wer diesen Mohikaner in ihr entdeckt – wie die Berliner Fotografin Rickie, die Portraits von Adina macht. Doch das bleibt pure Projektion: Für Rickie ist sie „Adina-Alexina, darling“, ansonsten diskutiert sie gemeinsam mit ihrer schwarz gekleideten Entourage den Determinismus der Sprache, institutionellen Sexismus und die Kluft zwischen Ossis und Wessis, kreist aber – wie beim gemeinsamen Tischtennisspiel – nur um sich selbst. Auch Kristiina, Aktivistin und Abgeordnete des finnischen Parlaments, erkennt den Mohikaner nicht, akzeptiert ihn aber immerhin als Selbstentwurf der sie am Ende des Romans um Hilfe bittenden jungen Frau.

In der Uckermark wird Adina dann aus Bequemlichkeit ihres Chefs Razvan Stein zu Nina. Der vor Ort geborene Unternehmer will dem Ausverkauf Ostdeutschlands etwas entgegensetzen und baut ein verlassenes Gut zum Kulturdomizil aus. Die hierfür benötigten Fördermittel soll Johann Manfred Bengel vermitteln, ein „uralter Mann in Turnschuhen“ – offenbar ein Alt-68er (West). Bengel hat ein ausgeprägtes Faible für das Russische; für ihn alles, was sich hinter dem Eisernen Vorhang befand. Dieser Ignoranz zum Trotz ist er ein EU-weit angesehener Multiplikator, den Stein durch ausschweifende Gelage von seinem Projekt zu überzeugen sucht. Adina-Nina soll dabei helfen – doch gefragt ist nicht ihr Wissen über den Postkommunismus: Bengel vergewaltigt sie. Adinas innerer Mohikaner bleibt reine Wunschvorstellung, bietet keinen Schutz.

Teil zwei und drei des Romans, die in Berlin und der Uckermark spielen, erzählen aus der eher naiven Sicht der jungen Adina, die mit Forscherdrang, doch ohne soziales Rüstzeug versucht, sich in der Welt zu behaupten. Die titelgebende Blaue Frau erscheint nur in Helsinki, chronologisch also nach der Vergewaltigung Adinas.

Wer oder was aber ist die Blaue Frau? Sie dient der ebenfalls in die Erzählung eingebundenen Autorin als Dialogpartnerin, als Gegenpol ebenso wie als Selbstvergewisserung. Die Autorin trifft sie am Hafen, jenseits der Unterführung zur Plattenbausiedlung, doch Stück für Stück überlagert sich diese Zufallsbekanntschaft mit der Figur der Sala (Adina) und der Autorin selbst: Antje Rávik Strubel wuchs in der DDR auf und lebte zeitweise als Stipendiatin in Helsinki. „Eine Figur [gibt] bestenfalls Auskunft über ihre Urheberin“, so die Blaue Frau. Diese Mehrfachprojektionen verwischen allerdings die Konturen, machen die Figur der Blauen Frau um so unschärfer. Doch: „Im Unerkundbaren kommen wir einander nah“, zitiert Rávik Strubel die österreichische Autorin Ilse Aichinger. Der Einfluß Aichingers, ihre Skepsis daran, daß Sprache die Welt wahrhaft beschreiben, abbilden könne, durchzieht den gesamten Roman. 

Dessen Ausgang wird manche Leserin unbefriedigt lassen: Adina nimmt keine Satisfaktion, weder durch eine öffentliche Anklage noch durch Selbstjustiz – obwohl ihr beides möglich wäre. „Der Mohikaner,“ konstatiert Adina am Ende, „ist der Letzte, weil er keine Geschichte hat.“ 

Inwieweit ist Sprache, die stets Unschärfen enthält, zu trauen?

Wie also umgehen mit der Erfahrung von Machtmißbrauch und totalitären Strukturen auf individueller wie auf nationaler Ebene? Entsteht Selbstgewißheit sowie eine Identität, für die es sich einzutreten lohnt, nicht gerade durch die Verarbeitung und Integration solcher „Dunkelstellen“ der eigenen Geschichte? 

Parallel dazu thematisiert der Roman „Blaue Frau“ die Frage, inwieweit der Sprache zu trauen sei. Kann sie Realität abbilden oder manipuliert sie lediglich die Erfahrung von Welt? Kann man einen Menschen durch einen Namen verändern oder gar die Realität durch neue Bezeichnungen? Als Autorin und Übersetzerin, als in der DDR geborene wie auch als Zeugin unserer Zeit, in der Diskurstheorien längst Eingang in den Alltag gefunden haben und – wieder oder weiterhin – politisch genutzt werden, kennt Rávik Strubel die essentielle Macht der Sprache. 

Auch im Bewußtsein, daß Sprache stets Unschärfen enthält, bietet sie jedoch – beruhend auf langfristig gewachsenen gesellschaftlichen Vereinbarungen – Koordinaten zur Verständigung. Wird Sprache massiv manipuliert, was man nicht nur aus kommunistischen Systemen kennt, erschwert dies die Möglichkeiten zur Interaktion und letztendlich die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft. 

Antje Rávik Strubel beleuchtet diese Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven, ohne sie – dankenswerterweise – apodiktisch zu beantworten. Auch im Roman „Blaue Frau“ werden Netze ausgeworfen in der Hoffnung, daß sich die eine oder andere tragfähige Wahrheit in ihnen verfängt.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau. Roman. S. Fischer, Frankfurt/Main 2021, gebunden, 432 Seiten, 24 Euro

Foto: Antje Rávik Strubel, Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2021