© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Wie man hört, gab es Irritationen wegen der Musikwünsche von Angela Merkel – „Du hast den Farbfilm vergessen“ (Nina Hagen), „Für mich, soll’s rote Rosen regnen“ (Hildegard Knef) – im Rahmen des Großen Zapfenstreichs zu ihren Ehren. Das ist kaum zu verstehen. Zwischendurch hatten wir schon „My Way“ (Frank Sinatra) bei Gerhard Schröder, „Time to Say Goodbye“ (Sarah Brightman) bei Franz-Josef Jung, „Smoke on the Water“ (Deep Purple) bei dessen unseligem Amtsnachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg und „Wind of Change“ (Scorpions) bei Ursula von der Leyen. Den Anfang des Staatstheater-Elends machte aber Roland Koch, dieser Hoffnungsträger der CDU-Konservativen und Verehrer des Dalai Lama, für den ein Truppen-Entertainer mit Glitzerbrille den Udo-Jürgens-Hit „Ich wünsch mir Liebe ohne Leiden“ schmetterte, während Uniformierte im Takt dazu schunkelten; dann folgte noch die amerikanische Nationalhymne „Star-Spangled Banner“ (man hatte den Eindruck, daß Angela Merkel im Publikum leise mitpfiff).

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„Die Christlichen Demokraten in Deutschland haben seit der Abschaffung der D-Mark immer mehr Positionen ihres Erfolgsmodells aufgegeben. Atomausstieg statt Kohleausstieg, kein Widerstand gegen die Schuldenunion und gegen die Enteignung der Sparer. Ehe und Familie werden nicht mehr als ‘die natürliche und sittliche Grundlage der menschlichen Gemeinschaft’ – so steht es zum Beispiel in der bayerischen Verfassung – verteidigt. Recht- und Hilflosigkeit bei der Migration 2015/2016. Dazu eine argumentative Hilflosigkeit, wie bei der Mietpreisdiskussion: Wenn plötzlich anderthalb Millionen Migranten hereingelassen werden, dann braucht man unerwartet mindestens dreihunderttausend Wohnungen, oder der Wohnungsmarkt wird erschüttert. Wieder auf der anderen Seite rigorose Arbeitsverbote für das Riesenheer der ‘Geduldeten’, bei explodierenden Sozialkosten.“ (Peter Gauweiler in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. November 2021)

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Klarstellung: Bei aller Begeisterung für die Kandidatur eines Eric Zemmour darf man natürlich nicht vergessen, daß er – wie alle französischen Nationalisten – gelegentlich einen antideutschen Affekt zur Geltung bringt, der nicht nur mit der vermeintlichen Übermacht „Berlins“ in der EU zu erklären ist, sondern in deprimierender Weise auf ein Inventar zurückgreift, das seit Waterloo kaum Veränderung erfahren hat.

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Warum spricht niemand über den Gender Gap bei weiblichen und männlichen Mannequins? Eine kursorische Überprüfung spricht dafür, daß erstere in der Spitzengruppe etwa 150 Prozent höhere Einkünfte als letztere erzielen. Wo bleibt der Aufschrei der Moralisch-Sensiblen, wo der Anmarsch der Social Justice Warrior?

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„Man darf die Frage stellen, ob die Antifa so etwas ist wie eine verbeamtete RAF, eine Terrorgruppe mit Geld vom Staat unter dem Deckmantel ‘Kampf gegen Rechts’.“ (Bettina Röhl, Tochter Ulrike Meinhofs, in einem Kommentar für die Neue Zürcher Zeitung, Online-Ausgabe vom 27. November)

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Beim Ansichtigwerden der neuen EKD-Ratsvorsitzenden fiel mir nur die ungalante Bemerkung des Theologen Friedrich Wilhelm Graf über den Einzug des „Mutti-Typs“ in die evangelische Pastorenschaft ein.

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Jetzt in der Vorweihnachtszeit zeigt sich in jedem Supermarkt, daß „lebenslanges Lernen“ kein leeres Wort ist. Jedenfalls überzeugt der Einkauf des täglichen Bedarfs an der Kasse davon, wie wichtig es für ein gedeihlicheres Zusammenleben wäre, wenn sich Menschen (vor allem ältere, vor allem männliche) besser auf die Herausforderungen des Daseins vorbereitet hätten, die hier auf sie warten. Das hieße zu begreifen und einzuüben, wie man die erworbene Ware ohne Zögern und direkt vom Band nimmt und verstaut. Keinesfalls wird abgewartet, bis alles aufläuft, um dann zu zahlen. Wichtig ist auch das Trainieren bargeldloser Verfahren im Fall stärkerer Kurzsichtigkeit oder fehlenden Geschicks beim Umgang mit Kleingeld. Dabei geht es auch um eine Forderung praktischer Mitmenschlichkeit. Was jeder versteht, der schon einmal den heillosen Schrecken jener gesehen hat, die in der Schlange stehen, wenn ganz vorn der triumphale Ausruf ertönt: „Ich hab es passend, warten Sie mal!“ Bliebe noch eine Petitesse: Es gehört sich einfach nicht, so lange mit der Entgegennahme des Bons zu warten, bis der ausgestreckte Arm der Kassiererin erlahmt, und den Zettel schon zu kontrollieren, bevor man den Kassenbereich geräumt hat. Meiner Meinung nach sind an dieser Stelle die Volkshochschulen gefordert: Wie wäre es mit Wochenendworkshops und anschließenden praktischen Übungen, zuerst computersimuliert in Echtzeit, dann in realexistierenden Geschäften bei niedrigem Kundenaufkommen? Das ganze selbstverständlich bei dauernder Supervision, folgender Nachbesprechung, notfalls Einzelübung. Zuletzt dann die Prüfung unter Ernstfallbedingungen (Sommerschlußverkauf, Donnerstagsangebote bei Aldi) und Aushändigung des Zertifikats an diejenigen, die bestanden haben.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 24. Dezember in der JF-Ausgabe 52/21.