© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Filmkritik Rashomon – Das Lustwäldchen
Welche Wahrheit ist wahr?
Werner Olles

Es regnet in Strömen, als drei Männer unter dem verfallenen Stadttor Rashomon Schutz vor dem Unwetter suchen: ein Holzfäller (Takashi Shimura), ein Mönch ( Minoru Chiaki) und ein unbekannter Dritter (Kichijiro Ueda). Der Holzfäller und der buddhistische Mönch erzählen, bedrängt von dem Dritten, eine schreckliche Geschichte, die sie bei einer Gerichtsverhandlung gehört haben. Im nahen Wald ist ein Samurai (Masayuki Moro) zu Tode gekommen, während seine Frau Masako (Machiko Kyo) von dem Banditen Tajomaru (Toshiro Mifune) vergewaltigt wurde. 

In Rückblenden sieht der Zuschauer die schlimmen Geschehnisse im Wald viermal: aus der Sicht des Banditen, aus der Sicht der Frau und ihres getöteten Mannes, der durch ein Medium spricht, und aus der des Holzfällers, der Zeuge war. Doch jedesmal erfahren wir eine andere Geschichte, und immer ist es ein anderer, der sich unehrenhaft beziehungsweise tapfer und ehrlich verhalten hat.

Akiro Kurosowas „Rashomon – Das Lustwäldchen“ nach den Erzählungen „Rashomon“ und „Yabu no naka“ von Ryunosuke Akutawaya erhielt beim Filmfestival in Venedig 1951 den Hauptpreis und wurde bei der Oscarverleihung mit einer Ehrenauszeichnung als bester englischsprachiger Film gewürdigt. Tatsächlich gehört „Rashomon“ zu jenen Meisterwerken der Filmkunst, die sich einer Auflösung der vermeintlichen Ereignisse – zwei Verbrechen, ein Mord und eine Vergewaltigung – konsequent entziehen. Bis zum Ende ist nicht zu erkennen, welche der vier erzählten Geschichten der Wahrheit entspricht. Spielt die vergewaltigte Ehefrau ein Psychospiel mit ihrem Mann, weil sie den Banditen bittet, sie zu seiner Frau zu nehmen, um dadurch ihre verlorene Ehre zu retten? Jedenfalls haben alle Beteiligten Unerhörtes erlebt, nur was, wird nicht klar, weil – wie der Regisseur, der sich mit Filmen, die das Leben nach der Kapitulation schilderten, einen Namen machte, sagt – die Menschen unfähig seien, aufrichtig zu sich selbst zu sein: „Sie können nicht über sich sprechen, ohne das Bild zu schönen.“ 

„Rashomon“, eigentlich ein skeptisches Heldengedicht ohne die starre Idealisierung der alten Samurai-Sagen, zählt zu Recht zu den bedeutendsten Filmklassikern des 20. Jahrhunderts: ein virtuoser Kunstgriff, der uns die Relativität des Daseins erleben läßt.

DVD/Blu-ray: Rashomon – Das Lustwäldchen. Pidax – Filmklassiker 2021, Laufzeit etwa  88 Minuten