© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Das Heilige bleibt unzerstörbar
Wer Venedig besucht, sollte sich in Askese üben. Das Erlebnis des Schönen wirkt gegen den Irrsinn der Zeit
Thorsten Hinz

Vor fast genau 235 Jahren notierte Goethe, als er in Venedig eintraf, über die Stadt sei schon so viel gedruckt und erzählt worden, daß er sich mit der Beschreibung keine Umstände mehr machen müsse. Käme er heute dorthin, hätte er noch viel größere Mühe, von der Stadt einen originalen Eindruck mit nach Hause zu nehmen. Im zweiten Buch von „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ ist von dem „ersten Aufblühen der Außenwelt als die eigentliche Originalnatur“ die Rede, das sich dem noch unverbildeten Menschen mitteilt und ihn fürs Leben prägt. Dagegen würde „alles Übrige, was uns nachher zu Sinnen kommt, nur Kopie zu sein scheinen (…).“

Genau das ist das Problem des Venedig-Touristen. Sein Blick auf die Stadt ist vorgeprägt durch Klischees der höchsten wie der niedersten Ebenen. Was er zu erleben meint, ist in aller Regel der Nachvollzug, das Kopieren von Begebenheiten und Stimmungen, von denen er gehört oder gelesen hat. Robuste Naturen wollen in der Bar bechern, wo schon Hemingway gebechert hat. Die Feinsinnigen halten Ausschau nach dem Palazzo, in dem Richard Wagner gestorben ist. Melancholiker gehen ins Café Florian am Markus-Platz, eingedenk der Szene, die der russische Dichter Josef Brodsky in seinem auf den November 1989 datierten Venedig-Buch „Fondamenta degli Incurabili“ – mißverständlich mit „Ufer der Verlorenen“ übersetzt – mitteilt: Irgendwann in den 1950er Jahren habe hier der Dichter W. H. Auden im Kreis von Freunden gesessen und lachend eine komische Geschichte erzählt. Dabei sei ihm eine Träne die Wange hinuntergelaufen, weil die Liebe seines Lebens, der 14 Jahre jüngere Schriftsteller Chester Kallman, wortlos aufgestanden und einem gutgebauten Seemann gefolgt sei. Die Träne aber, so Brodsky, sei der Versuch, mit der Stadt zu verschmelzen, deren Element das Wasser ist. Allerdings hat er die Szene gar nicht original erlebt, sondern der Schriftsteller Stephen Spender, der damals mit am Tisch saß, hatte sie ihm berichtet.

Die Chinesen sind groß im Geschäft, kaufen ganze Palazzi

Auch Thomas Manns „Tod in Venedig“ ist, wie man bei wiederholter Lektüre feststellt, von penetranter Symbolik, bildungsbürgerlichen Versatzstücken und Effekten überfrachtet. Gleiches gilt für Luchino Viscontis Verfilmung aus dem Jahr 1971, die Arte kürzlich wieder ausstrahlte. Tieferen Eindruck hinterließ eigentlich nur der feenhafte Auftritt Silvana Manganos in der Rolle der polnischen Gräfin, während Dirk Bogarde in der Rolle des Gustav von Aschenbach eine unglückliche Figur machte. In der Novelle ist Aschenbach ein Mann der „elegante(n) Selbstbeherrschung, die bis zum letzten Augenblick eine innere Unterhöhlung, den biologischen Verfall vor den Augen der Welt verbirgt“; erst in Venedig erlebt er sein schmerzhaftes Coming-out. Bei Visconti erscheint er von Anfang an als zitternde, stammelnde, ein bißchen tuntig wirkende Existenz. Aber vielleicht hat Visconti damit den von Thomas Mann überaus aufwendig verhüllten Kern der Novelle erfaßt. Der Darsteller des Tadzio übrigens, der Schwede Björn Andrésen, damals als „der schönste Junge der Welt“ gefeiert, gleicht heute, als Mittsechziger, einem gespenstischen Fakir.

In den sechziger Jahren nahm der deutsche Schlager in Ost wie West die Lagunenstadt in seinen Griff. „Prego, prego Gondoliere“, feuerte Mieke Telkamp ihren Bootsmann an, auf daß er ihr „den Weg ins Glück“ zeige. Ihre Kollegin Connie Francis dagegen vergoß bittere Tränen, weil Piero, in dem gleichfalls ein junger Gondoliere zu vermuten war, eine andere liebte. Und in der DDR versetzte Günter Geißler sich in die Situation eines Berliner Taxifahrers, der sich zum „verliebte(n) Gondoliere“ erklärte und in der östlichen Teilstadt, die sich gerade betonmäßig vom Westteil absentiert hatte, „soviel Romantik wie Venezia“ zu finden meinte.

Der derart mit Hoch- und Trashkultur abgefüllte und entsprechend abgebrühte Besucher, der mit dem Vaporetto vom Bahnhof stadteinwärts fährt, erlebt unmittelbar hinter der Rialto-Bücke dennoch eine kleine Epiphanie. An einer Pizzeria verkündet ein Transparent in Großbuchstaben: „No Mafia! Venezia e sacra!“ Venedig ist heilig! Nun ja, die ’Ndrangheta und Cosa nostra haben längst in Deutschland Fuß gefaßt, warum also nicht auch hier? Doch der Mafia-Begriff umfaßt mehr als die zwei Banden des Schreckens. Auskunft darüber geben die Berichte der Journalistin Petra Reski, die seit 30 Jahren in Venedig lebt und die Entwicklung in der Stadt genau registriert. (https://www.petrareski.com/reportagen/ach-venedig/) Auch die Kriminalromane der amerikanischen Wahl-Venizianerin Donna Leon um Commissario Brunetti, die das ZDF zu einer seiner wenigen brauchbaren Fernsehproduktionen inspiriert haben, ergeben ein düsteres Sittenbild.

Gemeint ist ein korruptes Geflecht, das neben der organisierten Kriminalität auch Politik und Wirtschaft einschließt. Dazu zählen die Kreuzfahrt-Industrie oder die Luxuswaren- und Hotelketten, welche die Stadt aufkaufen, okkupieren, ausweiden. Auch die Chinesen sind groß im Geschäft, sie kaufen Bars, Restaurants und inzwischen ganze Palazzi. Lebensmittelgeschäfte verschwinden, stattdessen werden Louis-Vuitton-Taschen oder Souvenir-Plunder angeboten. 

Seit jeher ist Venedig eine Bühne und Kulisse für den großen Auftritt gewesen, so für den Karneval. Mittlerweile gleicht es einem Erlebnispark, einem profitorientierten Disneyland, wo das sekundäre das primäre Stadtleben vereinnahmt, auslöscht, die Kopie das Original ersetzt. Die Einheimischen werden überflüssig, sogar zu Störfaktoren, und sollen am besten verschwinden. 

Das ist der zweite, objektive Grund, der den Originaleindruck so schwierig macht. Sogar die Kritik an der Totalökonomisierung wird von ihr eingeholt und verwertet. Im Netz kursieren Brunetti-Stadtpläne und werden Touren auf den Spuren des idealistischen Polizisten, der als Don Quijote gegen die allgemeine Verkommenheit ankämpft, empfohlen. Die Dachterrasse am Canal Grande, auf der seine Familie sich zu den Mahlzeiten versammelt, ist ein Blickfang für deutsche Touristen.

Ezra Pound widmete sich dem Heiligen und seiner Entweihung

Dennoch – das Wort „sacra“, „heilig“, klingt nach. Das Heilige und die Entweihung, die ihm droht, ist ein zentrales Thema des Dichters Ezra Pound (1885–1972), der seine letzten Jahre in einem Haus in der Calle Querini 252, einer kurzen Sackgasse am Rio Fornace Canal im Dorsoduro-Viertel, verbrachte. Die Kommune hat eine Gedenktafel für den „Titano della Poesia“ angebracht; am Klingelbrett ist weiterhin der Name von Olga Rudge, seiner Geliebten, zu lesen, die hundertjährig 1996 starb. In den „Cantos“ liest man die Verse: „Verlautbart 1266 (im Protokoll des Großen Rats – Th.H.): daß kein Notabler von Venedig Würfelspielen soll/ in irgendwelchen Räumlichkeiten des Palastes oder/ der Loggia des Rialto ...“ An anderer Stelle: „Der Tempel ist heilig, weil er nicht zum Verkauf steht“.

Als Feind des Heiligen identifizierte Pound „Usura“, den Wucher: „Bei Usura/ hat keiner ein Paradies auf seine Kirchenwand gemalt“, sondern: „Usura setzt an den Meißel Rost/ Und legt den Handwerkern das Handwerk“. Am Ende seines Lebens, in einer seiner letzten Äußerungen überhaupt, hat er eine wichtige Akzentverschiebung vorgenommen: „Was USURA angeht, so hatte ich das unscharf eingestellt und ein Symptom für die Ursache gehalten. Die Ursache ist HABGIER.“ Die aber ist Teil der menschlichen Natur und nicht zu besiegen.

Nun lassen die Werke, in denen das Heilige sich manifestiert, und ihr Warencharakter sich gar nicht absolut trennen. Man muß sich nicht das Diktum Walter Benjamins zu eigen machen, wonach „ein Dokument der Kultur (...) zugleich ein solches der Barbarei“ sei, aber die Kunstwerke, die Bauten und Artefakte, die wir ästhetisch vollendet als Ausdruck des Heiligen wahrnehmen, sind auch als Früchte des Reichtums, des Handels, des Wuchers und der Habgier entstanden. Mancher Auftraggeber hatte das eitle Bedürfnis, sich durch Kunst verewigen zu lassen; andere wollten sich durch die Stiftung guter Werke als gottgefällig erweisen. Das 1266 erlassene Gesetz, welches Pound zitiert, zeigt aber, daß es ein Empfinden dafür gab, daß das Heilige und das Geschäft nicht dasselbe sind. In einer Zeit, in der statt der Kirchen der Kapitalismus das Transzendenzbedürfnis erfüllt, hat diese Einsicht keine Gültigkeit mehr.

Was also tun? Nicht zynisch werden, sondern sich in Askese üben, um Venedigs Fülle zu genießen. „Indem sie das Wasser striegelt, hebt die Stadt das Aussehen der Zeit, verschönert sie die Zukunft. Das ist die Rolle dieser Stadt im Universum“, schrieb Joseph Brodsky. Wie recht er hatte! Askese heißt hier konkret: Einen Moment lang von den sekundären Ablagerungen zu abstrahieren: von der Mafia im direkten und erweiterten Sinn, von den Touristen – die bekanntlich immer nur die anderen sind –, vom Angelesenen einschließlich den Untergangsbeschwörungen. Dann wird einem die Stadt zum begehbaren Gesamtkunstwerk, und man kann die Palazzi, die Kirchen, die Grabmäler der Dogen, die Gemälde von Tintoretto, Tizian, Veronese wie beim ersten Mal auf sich wirken lassen. 

In Pounds „Pisaner Cantos“ heißt es: „... und der Canal Grande hielt sich wenigstens bis in unsere Zeit/ auch wenn das Florian neu ausstaffiert wurde/ und die Läden der Piazza nur durch/ künstliche Atmung bestehen“. Das Adverb „wenigstens“ („at least“) umschließt hier selber ein eigenes Universum. Die Paläste zu beiden Seiten des Kanals scheinen über dem Wasser zu schweben, und ihre Spiegelung auf seiner schimmernden Oberfläche verdoppelt ihre Schönheit nicht nur, sie  steigert sie ins Ätherische und entrückt sie so dem Irdischen. So wird sie zum Gleichnis einer höheren Ordnung, die den Betrachter in sich aufnimmt. Solche Entrückung in die Transzendenz ist ein Originalerlebnis. Aus ihm erwächst Hoffnung, daß etwas unzerstörbar Heiliges bleibt, daß Bezirke im Geiste existieren, in die man sich vor dem würfelnden Pöbel, vor den Politik- und Wirtschaftssyndikaten zurückziehen kann, weil sie Usura und der Habgier verschlossen bleiben.

Foto: Protestbanner in Venedig gegen die Mafia: Der Begriff meint mehr als organisierte Kriminalität, er schließt Politik und Wirtschaft mit ein