© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Ende des Karnevals der Freiheit
Mit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 würgten die Kommunisten in Polen alle vorherigen Reformen der Gewerkschaft Solidarnosc brutal ab / Die Zeit der Stagnation endete erst 1989
Ludwig Witzani

Am Abend des 12. Dezember, einem Sonntag, saßen zehn Studenten der Musikakademie von Krakau im Fernsehzimmer und schauten fern. Plötzlich wurde der Bildschirm schwarz. Auch die Heizung, die ohnehin kaum noch Leistung brachte, ging aus. „Fehlt nur noch, daß auch noch der Strom ausfüllt“, meinte die Sopranistin Lilia Wolek, ging in ihr Zimmer und stieg bei beißender Kälte mit zwei Schlafanzügen und einem Pulli übereinander ins Bett. 

So oder ähnlich ging es Millionen Polen am Abend des 12. Dezember 1980. Der wirtschaftliche und infrastrukturelle Verfall hatte ein derartiges Ausmaß erreicht, daß der Ausfall von Fernsehen, Telefon oder Heizung nichts Besonderes mehr darstellte. Tag für Tag wurden die Warteschlangen länger, große Teil der Wirtschaft waren durch Streiks lahmgelegt, und die Tankstellen hatten oft tagelang kein Benzin. Polen befand sich auf dem Höhepunkt einer Auseinandersetzung, die mit dem „Danziger Abkommen“ begonnen hatte und langsam ihrem Finale entgegenstrebte. 

Unter dem Druck der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność und millionenfacher Arbeitsnie-derlegungen hatte der stellvertretende polnische Ministerpräsident Mieczysław Jagielski am 31. August 1980 auf der Danziger Leninwerft das „Danziger Abkommen“ unterzeichnet. Es versprach die offizielle Zulassung der Gewerkschaft Solidarność, satte Lohnerhöhungen, soziale Verbesserungen, Postenvergabe nach Leistung und nicht nach Parteibuch und ein Ende der Pressezensur. Der kurze „Karneval der Freiheit“ begann, der allerdings schon bald in ein Desaster mündete. 

Denn die polnischen Kommunisten hatten niemals vorgehabt, die Abmachungen des Danziger Abkommens einzuhalten. Jede einzelne Gewerkschaftszulassung in der Provinz mußte mühsam erstritten werden, die alten Kader klammerten sich an ihre Privilegien, und Spezialeinheiten der Geheimpolizei verübten weiterhin brutale Überfälle auf Oppositionelle. Kein Wunder, daß Lech Wałęsa, der charismatische, aber vorsichtig lavierende Vorsitzende der Solidarność, seiner empörten Anhängerschaft kaum noch Herr wurde. Als die Angehörigen der Solidarność-Jugend im Herbst 1981 einen öffentlichen Freiheitsappell an die Völker Osteuropas formulierten, spitzte sich der Machtkampf zu. Der gemäßigte kommunistische Parteichef Stanisław Kania wurde durch General Woyciech Jaruzelski ersetzt, der sofort damit begann, in aller Stille einen Militärputsch vorzubereiten. Während das Land einem chaotischen Winter entgegentaumelte, wurden Einsatzpläne ausgearbeitet, Truppen konzentriert und Waffendepots gesichert. 

In der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 war es dann soweit. General Jaruzelski erschien in Unform im staatlichen Fernsehen und verkündete die Verhängung des Kriegsrechts mit sofortiger Wirkung. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, besetzten 70.000 Soldaten der polnischen Armee und 30.000 Mitglieder der Geheimpolizei (Zomo) alle wichtigen Gebäude und Verkehrsknotenpunkte im gesamten Land. Die Polizei erschien mit Brechstangen vor der Wohnungs-türe Lech Wałęsas und brachte ihn nach Warschau, offiziell zu Verhandlungen mit der Parteiführung, in Wahrheit, um ihn von seinen Mitarbeitern zu trennen. Seine Anhänger wurden zu Tausenden verhaftet.

Streikende Arbeiter wurden von der Staatsmacht erschossen 

Zeigten sich Demonstranten, feuerten die Soldaten das erste Mal knapp über die Köpfe hinweg und verhafteten, wer nicht das Weite suchte. In der Grube „Wujek“ in Kattowitz erschossen die Spezialeinheiten der Zomo ohne zu zögern neun streikende Arbeiter, als sie sich den Befehlen der Offiziere widersetzten. Die Zahl der in den ersten Wochen getöteten Arbeiter wurde von der Regierung mit einem Dutzend angegeben, war in Wahrheit jedoch viel höher. Die Armee zeigte keine Scheu, im eigenen Land zu töten. Der Widerstand brach zusammen. Eine Flut von Verordnungen und Gesetzen ergoß sich in den nächsten Tagen über das Land. Briefverkehr und Presse wurden der Zensur unterworfen, außerdem standen Telefonverbindungen nur noch eingeschränkt zur Verfügung. Rundfunk und Fernsehen sendeten ein reduziertes, strikt linientreues  Programm. Viele Schulen, Hochschulen und Kultureinrichtungen wie Opern und Theater schlossen bis auf weiteres ihre Tore.   

Dann rollte eine zweite Verhaftungswelle durch das Land. Diesmal waren Studenten, Schriftsteller und Künstler an der Reihe. Sie wurden zusammen mit den Gewerkschaftlern in landesweit zentralisierten Speziallagern festgesetzt. Als unzuverlässig eingestufte Arbeiter verloren ihre Stelle. Zehntausende Parteimitglieder, die Sympathien für die Solidarność hatten erkennen lassen, wurden aus der Partei ausgeschlossen. Offiziere rückten an die Spitze der Industriebetriebe und übten unumschränkte Befehlsgewalt aus. Ein „Rat der nationalen Wiedergeburt“ unter Vorsitz von General Jaruzelski übernahm die oberste Macht und ließ sich von der Staatspresse feiern.  

Aber zum Feiern bestand in Wahrheit kein Anlaß. Denn US-amerikanische, deutsche und französische Firmen beendeten auf Druck ihrer Regierungen abrupt alle laufenden Projekte. Bereits vereinbarte Kreditzusagen westlicher Banken wurden storniert, Lieferungen von Nahrungsmitteln, Ersatzteilen und Maschinen blieben aus. Nun arbeiteten die Arbeiter zwar wieder, aber Material und Kapital fehlten. Auch die Zerschlagung der schwarzen Märkte verbesserte die Lage nicht, denn die Bauern erzeugten nun, da sie ihre Ware staatlichen Aufkäufern abliefern mußten, einfach weniger Getreide und Fleisch. So blieben die massenhaft ausgegebenen Bezugsmarken für Grundnahrungsmittel zu großen Teilen ungedeckt. Nichts hatte sich verbessert, nur die Gewalt lag wie ein bleierner Mantel über dem Land.   

Erst im Juli 1983, im Vorfeld des zweiten Besuches von Papst Johannes Paul II. in Polen hob Jaruzelski das Kriegsrecht auf. Ein Großteil der etwa 10.000 Inhaftierten, unter ihnen Lech Wałęsa, wurde freigelassen. Allerdings blieben die meisten  Freiheitseinschränkungen in Kraft, und auch die Zeit des Terrors war noch nicht zu Ende. Als der Priester Jerzy Popiełuszko in seinen „Messen für das Vaterland“ in der Kirche von Warschau-Żoliborz vor zehntausenden Zuhörern die Untaten der Partei anprangerte, wurde er von drei polnischen Geheimdienstoffizieren im Oktober 1984 entführt und ermordet. 

Erst durch den politischen Wandel in der Sowjetunion und Michael Gorbatschows Politik von  „Perestroika“ und „Glasnost“ sahen sich die polnischen Kommunisten ab 1985 zu einer flexibleren Politik gezwungen. Zaghafte Wirtschaftsreformen wurden auf den Weg gebracht, die aber ohne Wirkung blieben. Ab 1988 versuchte Jaruzelski, die im Untergrund weiter aktive Gewerkschaft Solidarność in den Gesprächen am runden Tisch in den Herrschaftsapparat mit einzubinden. Bekanntermaßen mißlang dieser Versuch, weil die Polen im Juni  1989 die Kommunisten in den ersten halbfreien Wahlen mit überwältigender Mehrheit abwählten. 

Nach dem Fall des Kommunismus wurden General Jaruzelski und seine hochrangigen Mitarbeiter wegen der Ausschreitungen und Morde während des Kriegsrechts angeklagt, aber ausnahmslos freigesprochen – übrigens durch Richter, die noch aus der kommunistischen Ära stammten. Bis heute hält sich das Narrativ, daß die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 notwendig gewesen sei, um einen Einmarsch der Roten Armee zu verhindern, auch wenn neuere Quellen aus den Archiven der untergegangenen UdSSR das Gegenteil beweisen.

Foto: Der sowjetische Marschall Viktor Kulikow (l.), Polens Ministerpräsident General Wojciech Jaruzelski und DDR-Armeegeneral Heinz Hoffmann (r.)  1981: Zwei Jahre Kriegsrecht