© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Stalin handelte als ein Hauptakteur
Der US-Historiker Sean McMeekin über die sowjetische Kriegspolitik vor dem deutschen Angriff im Juni 1941
Stefan Scheil

Schon seit Jahren macht Sean McMeekin von sich reden. Als Professor für Geschichte am New Yorker Bard College und vorheriger Dozent für „Russian Studies“ an der Bilkent-Universität in Ankara ist er erstens ein Spezialist in den osteuropäischen und kleinasiatischen Angelegenheiten der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Und zweitens hat er den Mut, auf dieser Basis die Ursachen und den Verlauf der Weltkriegsära ganz allgemein neu anzusprechen. So betonte McMeekin 2014 in einem Buch zum Thema die „russischen Ursprünge des Ersten Weltkriegs“ und den französischen Beitrag dazu viel deutlicher als Kollege Christopher Clark. Für den sollten überall hauptsächlich „Schlafwandler“ unterwegs gewesen sein.

In seinem jüngsten Buch legt McMeekin nun eine „neue Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ vor. Es ist eine Geschichte von „Stalin’s War“. Nun ist mit diesem Titel nicht gemeint, irgendwelche jener Alleinverantwortungen neu zu verteilen, an denen die bundesdeutsche Professorenprominzenz immer noch so hängt. Sean McMeekin zeigt den Weltkrieg aber aus der Perspektive von Josef Stalin, der in dieser Zeit von allen Personen in staatlicher Verantwortung am längsten an den internationalen Affären beteiligt gewesen ist, und dies auch auf allen Kriegsschauplätzen, in Europa wie in Asien. Stalin, so die Kernbotschaft, handelte als Hauptakteur der Kriegsära. Nicht als jemand, der wider Willen in die Auseinandersetzung hineingezogen oder gar überfallen worden wäre.

Die Deutschen seien arrogant und besiegbar geworden

Als Einstieg wählt der Autor Stalins Ansprache vom 5. Mai 1941 vor zweitausend frischen Absolventen der Offizierslaufbahn der Roten Armee. Damals stand aus Stalins Sicht endlich die große Auseinandersetzung auf der Tagesordnung, der Krieg mit Deutschland, letztlich der Griff nach Zentraleuropa als dem nächsten großen Schritt der Revolution. In ebenso aufgeräumter wie entschlossener Stimmung ließ Stalin deshalb die gewohnte Zurückhaltung fallen. Die Zeit sei reif, die Deutschen seien arrogant und besiegbar geworden, die Rote Armee dagegen besser gerüstet denn je. Friedenspolitik sei eine gute Sache gewesen, aber jetzt nicht länger das Thema. 

In dieser Stimmung übernahm Stalin am folgenden Tag die Staatsführung der Sowjet- union. Bisher hatte er die Geschäfte von der Parteispitze der KPdSU her aus dem Hintergrund gelenkt, was zur kuriosen Situation geführt hatte, daß er vielen ausländischen Diplomaten in Moskau gar nicht persönlich bekannt war. Der seit 1934 amtierende deutsche Botschafter Schulenburg sah ihn beispielsweise zum ersten Mal, als Außenminister Ribbentrop zum Abschluß des Nichtangriffspakts 1939 nach Moskau anreiste. Ab Mai 1941 galt es aber, den Ruhm des kommenden Konflikts an der Staatsspitze einzusammeln.

Nach McMeekins Auffassung scheiterte dieses Ansinnen im Sommer 1941 letztlich an den logistischen Schwierigkeiten. Die größte Landstreitkraft aller Zeiten mußte in einem Gebiet mit schwacher Infrastruktur aufmarschieren. Es gelang der Roten Armee deshalb nicht, den Angriff als erstes zu führen. „Im Krieg der Titanen führte Hitler den ersten Schlag“, resümiert der letzte Satz dieses Kapitels.

Großen Raum widmet McMeekin den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Die änderten sich schon 1933 mit dem neuen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der die UdSSR erstmals anerkannte und eine Botschaft in Moskau einrichten ließ. Sein Kurs führte bald zu umfassender technologischer Hilfe für die So-w-jetunion und verdichtete sich in der Kriegszeit bekanntlich zu gigantischen Lieferungen an Waffen und Gerät aller Art. Alles entweder zum Vorzugspreis oder geschenkt. Einige Mitarbeiter Roosevelts in Schlüsselpositionen verstanden sich zu dieser Zeit eher als Zuträger Stalins denn als US-Diplomaten im Dienst des eigenen Landes. McMeekin zeichnet dieses wenig ruhmreiche Kapitel US-amerikanischer Außenpolitik im Detail nach, eine Schwerpunktsetzung, die nicht allen Kritikern gefallen hat.

Überhaupt die Kritiker. „Stalin’s War“ wurde wie McMeekins frühere Studien umfangreich besprochen, in Foren wie der Times, dem Guardian, in Foreign Affairs, dem Hausblatt des amerikanischen Council on Foreign Relations und an vielen anderen prominenten Stellen. Manche Kritiker nahmen naturgemäß Anstoß daran, es sei hier doch zu viel von Stalin die Rede und zu wenig von Hitler. Kaum jemand nimmt eben gern von langjährigen Meinungen Abschied, an die er sich gewöhnt hat. Allerdings hat sich die englischsprachige Publikationswelt auch in diesem Fall als weitaus flexibler für Neuanstöße erwiesen als beispielsweise die deutsche. Hierzulande blieb Sean McMeekins neues Werk bislang weitgehend unbeachtet, auch wenn er hier zweifellos weiter von sich reden machen wird.

Sean McMeekin: Stalin’s War: A New History of the Second World War. Allen Lane, London 2021, gebunden, 848 Seiten, 36,39 Euro

Foto: Josef Stalin 1941: Bis dahin hatte er die Staatsgeschäfte der Sowjetunion aus dem Hintergrund geführt