© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Argentinien war nicht wählerisch
Hannes Bahrmann über das beliebte NS-Refugium
Matthias Bäkermann

Im Frühjahr 1945 erklärten die letzten südamerikanischen Staaten, meist auf massiven Druck des US-Außenministeriums, dem Deutschen Reich den Krieg; Paraguay, Ecuador, Peru, Chile und Uruguay im Februar, aus Buenos Aires erfolgte die Kriegserklärung am 27. März. Deutschland war also Feindstaat, deutsche Staaatsangehörige ergo feindliche Ausländer. Warum der Staat am Rio de la Plata dennoch eines der attraktivsten Ziele vieler sich in den Wirren des Kriegsendes absetzender NS-Funktionsträger wurde, versucht der Journalist Hannes Bahrmann zu ergründen. 

Meist erfolgte deren Flucht über Italien oder Spanien, wo man willfährig Dokumente ausgestellt bekam, um auf der vom US-Geheimdienst so bezeichneten „Rattenlinie“ nach Südamerika zu entkommen. Manche Ankömmlinge in Argentinen wie der Ustascha-Führer Ante Pavelić oder der hochdekorierte deutsche Jagdflieger Hans-Ulrich Rudel agierten öffentlichkeitswirksam, andere versuchten unter falschem Namen ihre oft durch Kriegsverbrechen belasteten Biographien zu kaschieren. Prominenteste Fälle waren Adolf Eichmann, der KZ-Arzt Josef Mengele oder hohe SS-Offiziere wie Erich Priebke und Ludolf-Hermann von Alvensleben. Daß in diesem konspirativen Umfeld allerlei Mythen ins Kraut schossen oder durch belletristische Werke wie Frederik Forsyths „Die Akte Odessa“ befeuert wurden, läßt Bahrmann nicht unerwähnt.

In Argentinien fanden die NS-Exilanten besondere Verhältnisse vor. Das lag aber nicht unbedingt an den seit einigen Jahrzehnten ansässigen ausgewanderten Deutschen, die sich teilweise erfolgreich in gesellschaftlichen Schlüsselstellungen etablierten und in allerlei Vereinen organisierten. So etwas gab es in ähnlicher Form – gleichsam seit den dreißiger Jahren mit der Ausrichtung auf die nationalsozialistische Ideologie im alten Mutterland – ebenso im kanadischen Ontario, im US-Bundesstaat Pennsylvania oder im früheren Deutsch-Südwestafrika. Die Besonderheit war vielmehr, daß die Staatsführung, spätestens mit der Machtübernahme Juan Peróns 1946, eine aktive Politik „aus Eigeninteresse“ verfolgte, um deutsche „Spezialisten“ anzulocken und ihnen eine Heimstatt zu geben. Dabei zogen der argentinische Geheimdienstchef Rodolfo Freude und dessen Vertrauter, der frühere SS-Mann Carlos Fuldner, die entscheidenden Strippen. Perón, als früherer Militärattaché in Berlin, war zwar kein Parteigänger des NS-Systems, schätzte aber die deutsche Militärtradition, die schon zuvor auf die argentinische Armee oder auf Akteure wie den Putschistengeneral von 1930, José Félix Uriburu, großen Einfluß ausübte. Dieser Pragmatismus unter Perón gestattete dann auch, daß sich veritable Verbrecher im „Rattennest“ breitmachen konnten.

Hannes Bahrmann: Rattennest. Argentinien und die Nazis. Ch. Links Verlag, Berlin 2021, broschiert, 272 Seiten, 20 Euro