© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Herzkammer des chinesischen Wirtschaftswunders
Der Journalist Frank Sieren porträtiert die Wirtschaftregion Shenzhen im Süden Chinas als Beispiel des atemberaubenden Aufbruchs
Filip Gaspar

Ob es uns etwas angeht, wenn in China ein Sack Reis umfällt, sollte auch der letzte Skeptiker seit dem Ausbruch der Covid-Pandemie begriffen haben. Und während Deutschland diese immer noch nicht in den Griff bekommen hat, ist China gestärkt aus ihr hervorgegangen, und in der chinesischen Stadt Wuhan scheint das Leben fast zur alten Normalität zurückgekehrt zu sein. 

Dieser Erfolg läßt sich vor allem auf den technologischen Fortschritt Chinas zurückführen. Und dieser findet seinen Ausgang in Shenzhen, einer Stadt nördlich von Hongkong und mit dieser Sonderverwaltungszone schon fast zusammengewachsen. 

Der Journalist Frank Sieren lebt seit 27 Jahren in Peking und hat in seinem neuesten Buch „Shenzhen. Zukunft made in China“ die Entwicklung der Stadt vom kleinen Fischerdorf am Perlfluß-Delta zu einer hoch technologisierten Wolkenkratzer-Metropole auf 400 Seiten nachzuzeichnen versucht. Diese Entwicklung ist beachtlich: Lebten 1979 knapp 30.000 Menschen dort, so hat Shenzhen mittlerweile über 13 Millionen Einwohner, in der Agglomeration sogar 17,56 Millionen nach der Volkszählung von 2020. Und das alles innerhalb von vierzig Jahren, was zu dem etablierten Ausdruck „Shenzhen Speed“ geführt hat. 

Sieren zeigt auf, daß in Shenzhen alles schneller, effektiver, innovativer, aber auch rabiater als im Rest der Volksrepublik vor sich geht. Zum Vergleich: In Shenzhen werden in einem Jahr so viele Hochhäuser hochgezogen wie in zehn Jahren in den USA, und chinesische Arbeiter benötigen für eine Hochhausetage etwa anderthalb Tage. Es ist ChinasnHauptstadt, wenn es um autonomes Fahren, Telekommunikation oder auch die Produktion von veganem Fleischersatz geht. Das weltbekannte und berüchtigte Telekommunikationsunternehmen Huawei hat dort seinen Sitz. Technische Neuerungen, die in Shenzhen entstehen und sich durchsetzen, haben mit Sicherheit einen Einfluß auf die gesamte Welt – im positiven wie auch negativen Sinne. Deshalb verschlägt es auch oft die Klügsten und Innovativsten dorthin.

Widersprüche einer sowohl totalitären als auch hippen Stadt

Um so verwunderlicher , daß hierzulande viele mit dem Namen Shenzhen kaum etwas anzufangen wissen. Dabei sieht man dort, was demnächst auch bei uns zur Realität werden könnte. Innerhalb kürzester Zeit wurde der Verkehr auf Elektromobilität umgestellt, und das effektiv und in einer Millionenmetropole. Drohnen machen Jagd auf Verkehrsrowdys, und Roboter im alltäglichen Einsatz sind keine bloße Zukunftsmusik.

Doch wer befürchtet, daß Sieren in seinen acht Kapiteln alles durch eine rosarote Brille beschreibt, der irrt. Ebenso schildert er die Schattenseiten samt ihren Verlierern auf dem Weg zur Technologie-Metropole. Er schafft es, die Widersprüche dieser sowohl totalitären als auch hippen Stadt aufzuzeigen.

Jede Kapitelüberschrift besteht aus einem Verb: Wohnen, Bewegen, Überwachen, Chillen, Vernetzen, Assistieren, Heilen und Essen. Mit Hilfe dieser Gliederung kann der Leser sich die ihn interessierenden Themen zuerst vornehmen, anstatt es in chronologischer Reihenfolge zu lesen. In jedem Kapitel läßt Sieren Akteure aus den einzelnen Branchen zu Wort kommen. Da ist der deutsche Architekt Ole Scheeren, der seine Vorliebe für futuristische Bauwerke in Shenzhen ausleben kann. Man lernt Professor X kennen, der für die Einführung des autonomen Fahrens in der Stadt zuständig ist. Und in dem Kapitel „Vernetzen“ poträtiert Sieren sehr ausführlich den Gründer des umstrittenen Telekommunikationskonzerns Huawei, Ren Zhengfei. 

Gerade diese gekonnt in den Text eingewobenen persönlichen Begegnungen lassen die Lektüre nie langweilig werden. Beim Lesen schwingt auch permanent ein reflektierender Vergleich zu Deutschland mit. Sieren weiß, daß das autoritäre System gänzlich verschieden zu unserem ist und in Deutschland nicht so leicht Maßnahmen von oben verordnet werden können. Er möchte auch nicht die Arbeitsweise in Shenzhen auf Deutschland übertragen, sondern wenn überhaupt einzelne Komponenten. Damit sind zum Beispiel mehr Offenheit für Neuerungen und ein Loslassen von alten Strukturen gemeint. In der Hinsicht ist Shenzhen uns Jahre voraus, genauso wie in der Digitalisierung überhaupt. Vielleicht ist das Buch von Frank Sieren ein erster Schritt, um den Anschluß nicht endgültig zu verlieren.

Frank Sieren: Shenzhen. Zukunft made in China. Zwischen Kreativität und Kontrolle – die junge Megacity, die unsere Welt verändert. Penguin Verlag, München 2021, gebunden, 416 Seiten, 22 Euro