© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Unser Natur-Defizit-Syndrom
Ohne profunde Schulkenntnisse schwindet das Interesse an der Erhaltung von Artenvielfalt
Bernd Seiffert

Zum Thema Artenvielfalt zunächst die gute Nachricht. Sie wird überbracht von Joel Methorst, der an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg Ökonometrie-Vorlesungen hält. Der Umweltforscher hat am Frankfurter Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum (SBiK-F) in zwei Studien den Einfluß der Natur auf das menschliche Wohlergehen untersucht. Und verkündet zusammen mit Kollegen an den Universitäten Halle und Kiel die frohe Botschaft: „Biodiversität macht glücklich!“ (Senckenberg, 7/21). In ihrer deutschlandweiten Studie fanden die Wissenschaftler heraus, daß Menschen, die in Landkreisen mit einer höheren Artenvielfalt von Pflanzen und Vögeln leben, bei besserer mentaler Gesundheit sind.

Damit bestätigt der Wirtschaftswissenschaftler Methorst britische Arbeiten aus den 1990ern, denen zufolge Aufenthalte in artenreicher Natur Streß abbauen und die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit wiederherstellen. Ein ähnliches Bild zeigte sich nach der Auswertung der Daten von 26.000 befragten Europäern, für die speziell eine reiche Vogelfauna in ihrem unmittelbaren Umfeld die Lebenszufriedenheit steigert. Zusätzlich wurde bei diesen Probanden ermittelt, wie hoch ihr Vielfalts-Erlebnis im Vergleich zum persönlichen Einkommen zu veranschlagen ist: Vierzehn zusätzliche Vogelarten in naher Nachbarschaft „machen mindestens genauso glücklich wie – ein europäisches Durchschnittseinkommen von 1.237 Euro zugrunde gelegt – exakt 124 Euro monatlich mehr auf dem Gehaltskonto“.

Diese die Gesundheitsvorsorge und Gesunderhaltung einer Gesellschaft begünstigenden Effekte würden allerdings in ökonomisch relevanter Form nur erzielt, wenn Menschen überhaupt in der Lage seien, artenreiche und artenarme Biotope zu unterscheiden. In welchem Ausmaß diese Wahrnehmungsfähigkeit bei der Bevölkerung westlicher, naturferner, verstädterter Industrienationen noch vorhanden ist, darüber gehen die Ansichten der älteren Forschung zwar auseinander, aber Einigkeit besteht zumindest in der Einschätzung des langfristigen Trends, wonach die Entfremdung von der Natur inzwischen so weit fortgeschritten ist, daß Artenkenntnis nicht mehr zum Allgemeinwissen gehört. Damit könnte der dramatische globale Verlust an biologischer Vielfalt, so wie ihn zuletzt 2019 der Bericht des Weltbiodiversitätsrates dokumentierte, als solcher von der Masse der Bürger gar nicht mehr empfunden und von ihnen also nicht in politischen Widerstand gegen den Artenschwund umgesetzt werden.

Methorsts Befürchtung, die Biodiversität nehme rapide ab, weil immer mehr Menschen aus blanker Unkenntnis nicht fähig seien, sich für sie zu engagieren, wird – und das ist die schlechte Nachricht – durch Petra Lindemann-Matthies’ aktuelle Bestandsaufnahme der Vermittlung von Artenkenntnis an bundesdeutschen Schulen untermauert (Natur und Landschaft, 8/21). Die Biologieprofessorin an der PH Karlsruhe hat zusammen mit Martin Remmele vom Institut für Biologie und Schulgartenentwicklung die Bildungspläne der 16 Bundesländer daraufhin geprüft, in welchem Umfang und mit welcher Intensität der Unterricht das Verständnis von Artenvielfalt fördert. Wie Methorst wirft auch Lindemann-Matthies dabei einen vergleichenden Seitenblick auf britische, aber auch auf ältere deutsche und schweizerische Studien.

Das Kennenlernen von Pflanzen und Tieren im Unterricht fehlt

In der Schweiz nahmen Kinder 2002 auf ihrem Schulweg nur fünf Pflanzen- und sechs Tierarten wahr, wobei es sich vorwiegend um Garten- und Zierpflanzen sowie Haustiere handelte. Als britische Jugendliche gymnasialer Abschlußklassen 2005 gebeten wurden, zehn häufige einheimische Pflanzenarten mit ihrem Populärnamen (Primel, Veilchen) anzusprechen, war niemand in der Lage, die Aufgabe vollständig zu bewältigen, und erschreckende 70 Prozent von ihnen wußten nur ein bis zwei Pflanzen korrekt zu benennen. Ebenso niederschmetternd fielen in den drei Ländern zwischen 2005 und 2020 durchgeführte Tests aus, die das Wissen um heimische Vogelarten prüften. Nicht zu reden von der blamablen Bilanz der Vogel-PISA-Studie von 2018.

Angemessen reagiert hätten Schulverwaltungen, Didaktiker und Politiker auf dieses „Natur-Defizit-Syndrom“ nicht. Seit Jahrzehnten ist der anhand von „Bestimmungsbüchern“ erteilte Unterricht in Taxonomie (Systematik von Art, Gattung oder Familie von Lebewesen), einst im Zentrum des Biologieunterrichts stehend, in vielen Ländern der Welt rückläufig. Ein Mißstand, über den man erst in jüngster Zeit, unter dem Druck des sich beschleunigenden Artenschwundes, wieder eifriger diskutiere. Und blicke man auf die Universitäten, die künftige Biologielehrer ausbilden, liegen dort die Schwerpunkte auf Molekularbiologie und Gentechnik. Das habe zum Abbau von Lehrstühlen mit freilandökologischer, taxonomischer und biogeographischer Ausrichtung geführt. Mit der Folge, daß es heute ein unzureichendes Angebot von Bestimmungskursen und Freilandpraktika gebe, so daß schon Biologiestudenten „oftmals nur eine geringe Artenkenntnis“, vage Vorstellungen von biologischer Vielfalt sowie wenig Selbstvertrauen hätten, einschlägige Themen in ihrem späteren Unterricht zu behandeln. Sukzessive würden daher nicht nur die Artenkenntnisse der Schüler, sondern auch deren Erwartungen an die sie umgebende biologische Vielfalt stetig abnehmen.

Der Fischereibiologe Daniel Pauly wies 1995 als erster auf dieses „shifting baseline syndrome“ hin. Demnach orientieren sich Menschen nur an Informationen, die ihnen innerhalb ihres Generationen-Horizonts zur Verfügung stehen. So seien sich von Pauly befragte junge Fischer nicht bewußt gewesen, daß das, was ihnen an Artenvielfalt und Fangertrag als „viel“ erscheine, für ihre Väter kümmerlich „wenig“ gewesen sein dürfte.

Um Menschen für einen fürsorglichen und schützenden Umgang mit der Natur zu sensibilisieren, müßten sie früh lernen, biologische Vielfalt zu verstehen. Denn nur profundes Wissen über die Natur motiviere zum Einsatz für die Bewahrung der Artenvielfalt. Dazu gehörten außer Artenkenntnis elementare Kenntnisse über Lebensweise, Ökologie und den Lebensraum von Organismen. Darauf bereitet der Biologieunterricht in der 5. und 6. Klasse, wo der Schwerpunkt der Vermittlung liegen sollte, jedoch eher schlecht vor. Wie an den Bildungsplänen der Länder abzulesen sei, die allgemein das „Kennenlernen von Pflanzen“ als Lernziel fixieren, aber keine einzige Pflanzenart mit ihrem umgangssprachlichen oder wissenschaftlichen Namen aufführen.

Beim „Kennenlernen von Tieren“ sehe es nicht besser aus. Der Vorschlag konkretisiere sich allein bei Wirbellosen (Spinnen, Schnecken, Würmer). Ansonsten bleibe unklar, welche Tiere zu behandeln sind. Als fragwürdig erweise sich zudem die nachdrückliche empfohlene Ersetzung des Lernorts Naturlandschaft durch Smartphones und Bestimmungsapps wie Flora Incognita. Spreche doch einiges für die Vermutung, „daß das Servieren quasi ‘auf dem Tablet(t)’“ nicht die Neugier wecke, mehr über Pflanzen und Tiere zu erfahren und deren spezifische Eigenschaften zu erforschen.

 www.natur-und-landschaft.de

 www.senckenberg.de

Foto: Kinderzeichnung eines Gartens: Natur muß in der Schule wieder mehr vermittelt werden