© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Der Flaneur
Lockdown-Sehnsucht
Paul Leonhard

Das Leben hat sich erneut gravierend verändert. Schon in der S-Bahn herrscht Streß pur. Fahrradfahrer streiten sich mit Berufsschülern um die Plätze. War das schön im Lockdown, als die Abteile halb leer waren. Quasi aus dem Nichts tauchen an beiden Zugenden jeweils knapp 30 Schüler auf und hängen wie eine Traube an den Eingängen.

Die Schüler haben so viel Gepäck dabei, obwohl es sich nur um einen Klassenausflug handeln dürfte. Und vielleicht steigen sie ja schon an der ersten ländlichen Station wieder aus, versuche ich mich aufzumuntern.

Mir gegenüber nehmen zwei der mitreisenden Lehrer Platz. Der Rucksack der Frau landet auf meinen Füßen, was die nicht weiter interessiert, aber meinen Blick auf sie lenkt. Die Blondierte dürfte kurz vor dem Ruhestand stehen. Sie sieht verhärmt aus. Mundwinkel nach unten fallend, wie bei der Noch-Kanzlerin. Jedes Schuljahr, jede Klasse scheint tiefe Falten in ihr Gesicht geschnitten zu haben.

Ein Vorwitziger entdeckt die Kippfunktion des Fensters, so daß ich im kalten Windzug sitze.

Er dagegen, pausbäckig, jung, blauäugig, ist wohl Junglehrer oder noch Referendar. Jedenfalls erträgt er klaglos die zynischen Schilderungen seiner Kollegin aus geschätzten hundert Jahren Unterricht und Erziehung ebenso, wie ständig nachfragende Schüler: Wie viele Stationen sind es noch, wie viele Minuten. Bei Leo ist die Trinkflasche ausgelaufen, erzählt die Klassenpetze. Sie habe es aufgewischt, war das richtig?

Dann erscheint Leo persönlich. Der Unglücksrabe hat sich offenbar auch noch in die Pfütze gesetzt, die die Trinkflasche hinterlassen hat. Es sieht aus, als habe er eingepullert. Habe er nicht, versichert der Kleine. „Wissen wir schon“, meint die Lehrerin ungnädig. Die Mitschüler grinsen. Bis zur Stadt sei das getrocknet. Ich bin schockiert: Das ist die Endstation. 

Eine Stunde muß ich die lärmende Bande noch ertragen. Jetzt hat ein ganz Vorwitziger auch noch entdeckt, daß die Fenster anzukippen sind, und ich sitze im kalten Windzug. Ach, war der Lockdown schön, denke ich mit Blick auf den nächsten drohenden zynisch. Da waren wir mitunter nur zu dritt: der Zugführer, der Zugbegleiter und ich.