© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Mit oder ohne?
Corona: Daten zum Impfstatus von Intensivpatienten sind mangelhaft / Kritik an fehlender Aussagekraft
Mathias Pellack

Die Frage erschien simpel, doch auch nach zwei Jahren Pandemie zeigten sich die Sachverständigen ratlos: „Haben Sie inzwischen Informationen darüber, wie viele Corona-Patienten auf den Intensivstationen Geimpfte und wie viele Ungeimpfte sind?“, wollte der Bundestagsabgeordnete Martin Sichert (AfD) am 8. Dezember im Hauptausschuß des Deutschen Bundestages von den geladenen Gesundheitsexperten wissen. Nein, das könne man nicht sagen, lautete die ernüchternde Antwort von Florian Hoffmann, Generalsektretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die mit ihrem Intensivbettenregister die freien Kapazitäten auf den Stationen beziffert. Die Abfrage des Impfstatus bei Patienten sei „erst seit ganz kurzem am Laufen. Bis wir valide Daten haben, brauchen wir noch eine gewisse Zeit.“ Sichert hakte nach: „Wissen Sie denn wenigstens, wie hoch der Anteil der Genesenen auf den Intensivstationen ist, beziehungsweise derjenigen, die bereits mehrfach an Corona erkrankt sind?“ Auch hier lautete die Antwort: Nein. „Wir wissen nichts von doppelt genesenen Patienten, das ist bisher nicht erfaßt worden“, erläuterte Hoffmann. Es sind nicht die einzigen offenen Fragen in der Pandemie. Die Datenlage ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wie Großbritannien, Dänemark oder Schweden so eklatant mangelhaft, daß die Welt bereits von einem „deutschen Sonderweg durch die Pandemie“ spricht.

Die Zeitung hatte jüngst belegen können, weshalb Inzidenzen in Bayern und Hamburg, die nach Geimpften und Ungeimpften unterschieden wurden, ein stark verzerrtes Bild abgeben. Die JUNGE FREIHEIT hatte bereits im August auf das unstimmige Verhältnis von 20 Infektionen bei ungeimpften Personen zu einer bei geimpften Personen hingewiesen, das die Hamburger Zahlen zeigten. Aus dänischen Daten, die nicht wie in Deutschland zufällig zustande kommen, sondern durch systematische Testungen ermittelt werden, ging hervor, daß dieses Verhältnis eher drei zu eins betragen müsse. Ermittelt hatten die Hamburger die Inzidenz der Ungeimpften „mit der Bezugsgröße Gesamtbevölkerung, aus der Gesamtanzahl der Fälle in den letzten sieben Tagen minus Impfdurchbrüche in den letzten sieben Tagen“, wie der Senatssprecher Hamburgs damals der JF erklärte. Dies sei eine „Betrachtungsweise, die sich begründen und vertreten“ lasse. Die Welt konnte nun belegen, daß diese Berechnung zu falschen Ergebnissen führt, vor allem weil die große Zahl derer mit unbekanntem Impfstatus einfach den Ungeimpften zugerechnet wird. Personen ohne bekannten Impfstatus stellen aber die Mehrheit unter den Sars-CoV-2-Infizierten.

Deutsche Datenbasis schlechter als die Mazedoniens

Besondere politische Brisanz erhielten diese Inzidenzen nach Impfstatus, weil sie unter anderem der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) als Beleg für das oft wiederholte Narrativ von der „Pandemie der Ungeimpften“ nutzten und damit die Stärke der Impfung zu überhöhen. Doch auch nachdem die Welt diese Methode offengelegt hatte, änderte sich bisher nichts. Der Chef des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), Walter Jonas, verteidigte die unkorrekten Berechungen sogar. Der Vorwurf der Welt sei „absolut abwegig“. Man habe sich bewußt zu dieser Berechnung entschieden, denn „nach später vorliegenden Daten“ seien die Fälle mit zunächst unbekanntem Status „in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle ungeimpft“.

Abermals forderte die Zeitung die Zahlen an. Abermals ließ das LGL Zeit verstreichen, ohne zu reagieren. Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) behauptete gegenüber Journalisten der Süddeutschen Zeitung kurz darauf, daß die Zählmethode „sehr nah an den tatsächlichen Daten“ sei.

Der FDP-Fraktionsvorsitzende im bayerischen Landtag, Martin Hagen, warb derweil erneut für die Impfung, doch forderte er, man müsse noch einmal über das Thema Impfpflicht debattieren. „Wenn wir jetzt feststellen, daß der Unterschied in Sachen Infektionsrisiko zwischen Geimpften und Ungeimpften nicht annähernd so hoch ist, wie uns Markus Söder hat glauben lassen, dann müssen wir die Diskussion führen, ob eine Impfpflicht ab 18 wirklich Sinn macht.“ Angesichts der „untauglichen Zahlen“ sei es nun noch schwieriger, eine altersunabhängige Impfpflicht zu begründen und durchzusetzen. 

Die Kritik zeigte nun offenbar Wirkung: Anfang dieser Woche hieß es, die Kliniken seien nun dazu verpflichtet, der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin tagesaktuell mitzuteilen, wie viele der Covid-Patienten geimpft sind und wie viele nicht. Allerdings sind nicht nur die Zahlengrundlagen der Inzidenzen löchrig und werden teils verzerrt dargestellt. Auch an der vom RKI ermittelten Impfeffektivität mehrt sich Kritik, wie sie Handelsblatt-Journalist Norbert Häring formuliert. Das RKI kennt von inzwischen über 80 Prozent der Menschen mit Corona-Infektion den Impfstatus nicht. Im August lag der Anteil noch unter 40 Prozent. Auf dieser schlechten Basis, so kritisiert Häring, nutze das RKI die Farrington-Formel zur Berechnung der Impfeffektivität. Diese Formel sei aber vor allem für kontrollierte klinische Studien geeignet, in denen die verglichenen Gruppen gleich groß sind und durch Zufallszuteilung über gleiche statistische Eigenschaften verfügen. Beides ist hier nicht der Fall, da etwa deutlich mehr alte Menschen künstlich immunisiert wurden als junge, so daß die Gruppe der Ungeimpften im Schnitt jünger ist.

Das RKI erklärt den mangelhaften Datensatz der JF gegenüber mit der Überlastung der Krankenhäuser und der Gesundheitsämter. Diese „können wahrscheinlich alle Angaben zu den hospitalisierten Fällen nicht vollständig erfassen oder dem RKI übermitteln“. Weiter könne es Nachmeldungen geben. All dies kann die Impfeffektivität beeinflussen, schreibt Häring: „Tendenziell sorgt die Formel dafür, daß die Impfeffektivität um so höher wird, je mehr Menschen mit geringem Risiko schwer zu erkranken, geimpft werden.“

Wäre die Bundesregierung daran interessiert, seriöse Zahlen für die Stärke der Impfung zu erhalten, hätte sich das Gesundheitsministerium einer jüngst erschienenen Eurosurveillance-Studie der WHO anschließen können, in der der tatsächliche Schutz durch die Impfung geschätzt wurde. 32 der 47 europäischen Länder haben dies getan und ermittelt, daß die verschiedenen Impfungen im Schnitt die erwartete Übersterblichkeit im Jahr 2021 um die Hälfte reduzieren konnten. Laut den Autoren der Studie konnte Deutschland aber nicht teilnehmen, weil es im Gegensatz zu beispielsweise Frankreich, Mazedonien, Moldawien und Schweden nicht die geforderten Daten bereitstellen konnte, erklärt Mitautor Richard Pebody der JF.

Zahlen zur Sterblichkeit publizierte jüngst wieder das Statistische Bundesamt. Darin legt es dar, daß in den ersten zwölf Monaten der Pandemie, also  von März 2020 bis Februar 2021 die Sterbezahlen entgegen der Erwartung in Wiesbaden um sieben Prozent gestiegen sind – also 71.000 Menschen mehr gestorben sind als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung sei aber nur eine Zunahme um zwei Prozent erwartet worden. Etwa 50.000 Sterbefälle können damit nicht durch die Alterung allein erklärt werden. Der Vizepräsident des Statistischen Bundesamtes, Christoph Unger, sagte bei der Vorstellung der Daten vergangene Woche, der Anstieg der Sterbefallzahlen (Übersterblichkeit) sei nicht nur, aber „maßgeblich durch die Pandemie beeinflußt“.

Eine Zunahme von Suiziden habe es im vergangenen Jahr dagegen nicht gegeben, betonten die Statistiker. 9.206 Menschen wählten den Freitod, das sei der zweitniedrigste Wert seit 1980.





Sterbefälle im Jahresvergleich

Die Sterblichkeit läßt sich in absoluten Zahlen oder mit einem Punktesystem darstellen. Hier ist die Abweichung von der erwarteten Sterblichkeit (Z-Score) aufgezeigt, wie sie das in Dänemark angesiedelte Institut Euromomo berechnet, um Grippewellen, Pandemien oder andere Bedrohungen der Gesundheit einer Bevölkerung zu veranschaulichen. Einbezogen sind Saisoneffekte wie typische Erkältungszeiten oder Trends wie die Alterung der Bevölkerung. So wird der Vergleich von Sterblichkeitsmustern zwischen verschiedenen Zeiträumen und verschiedenen Ländern ermöglicht. Immer wieder wird die Sterblichkeit in Deutschland mit der in Schweden verglichen. Die untenstehende Auswahl zeigt, daß Schweden nach der heftigen ersten Corona-Welle mit jeder weiteren Welle weniger Übersterblichkeit zu beklagen hat. In Deutschland hingegen waren die zweite und dritte Welle deutlich heftiger. Auch die vierte Welle zeigt bisher eine stärkere Ausprägung.