© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

In Erwartung der Großen Transformation
Der rapide Rückzug ins politisch Vormoderne hat wenig mit „Populisten“, aber viel mit „Globalisten“ zu tun
Oliver Busch

Der Terminus Kultur ist verwirrend vieldeutig. Dennoch ergibt die Auswertung von Lexika einen kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner, der sich aus colere, dem lateinischen Stammwort von Kultur, herleitet. Zu übersetzen ist das mit bebauen, pflegen, veredeln. Je nach Gegenstand der pflegenden Tätigkeit unterscheiden sich die Kulturarten. Soweit es sich dabei um die menschliche Verbesserung von Naturgegebenheiten handelt, spricht man von materieller, wirtschaftlicher, technischer Kultur. Soweit der Mensch sich selbst „kultivierend“ in Form bringt, hebt er die Körper- und Geisteskultur der Gruppe, der er angehört. Richtet er sein veredelndes Tun auf die Zivilisierung des Umgangs untereinander, fördert er deren politische Kultur. 

Das Standardmodell fortgeschrittener politischer Kultur ist seit gut 200 Jahren die nationalstaatlich verfaßte Demokratie, deren gegenwärtige, von rapide nachlassender Pflege zeugende Realität den emeritierten Staats- und Verwaltungsrechtler Gunnar Folke Schuppert (78) mit tiefer Sorge fragen läßt: „Wie resilient ist unsere politische Kultur?“ (Der Staat, 3/2021).

Schon die atemberaubende Begriffskarriere von „Resilienz“, einem Lemma, das das „Große Fremdwörterbuch“ der Duden-Redaktion von 1994 noch gar nicht kennt, ist für Schuppert, der bis 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrte, ein untrügliches Indiz für die evidente schwere Krise der Demokratie, ja für ihr „Schwinden“ (Horst Dreier, 2016) in einem Prozeß der „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ (Philip Manow, 2020). Demokratische Staaten schwächeln heute nicht bloß, „sie stehen unmittelbar vor dem Ableben“. Es scheint ihnen also ausgerechnet an dem zu fehlen, was die inflationäre Verwendung von Resilienz kompensatorisch beschwört: an Robustheit, Widerstandsfähigkeit und an jener Anpassungskapazität, die Gesellschaften befähigt, etwa natürliche Desaster wie Seuchen oder Sozialkatastrophen wie Kriege zu meistern.

Die Krise der Demokratie besteht im Verfall ihrer politischen Kultur

Schuppert stützt seine am Schmerzenslager der moribunden Demokratie erstellte Diagnose zunächst auf Politologen wie Manow und Torben Lütjen („Amerika im kalten Bürgerkrieg“, 2020), sowie auf den ausführlich zitierten Ex-Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle. Autoren, die penetrant die USA unter Donald Trump, Ungarn, Polen oder die Türkei traktieren, um gebetsmühlenartig vor „Populisten“ als Hauptgefahr für den demokratischen Verfassungsstaat zu warnen. Oder sich wie speziell Voßkuhle nicht entblöden, angesichts der von den Altparteien organisierten, in Karlsruhe die Richterauswahl steuernden dreisten „Ämterpatronage“ (Werner Mäder) allein anderswo erfolgende „Zugriffe auf die unabhängige Justiz“ als Anschläge auf die „normativen Lebensadern aller der europäischen Idee verbundenen Länder“ anzuprangern.

In solchen mehr vernebelnden als aufklärenden Wortmeldungen kommen die „Antidemokraten“ notorisch von außen, während Steven Levitsky und Daniel Ziblatt sie in ihrem Bestseller „Wie Demokratien sterben“ (2019) im „tiefen Staat“, im Innern demokratischer Systeme wirken sehen, die sie „schrittweise, fast unmerklich und ganz legal“ umbauen würden. Doch sowohl in der Außen- als auch der Innen-Variante können die „Mörder der Demokratie“ für Schuppert nur Erfolg haben, wenn ihr Opfer bereits unter Vorerkrankungen leidet. Darum doktere allenfalls an Symptomen herum, wer sich bei der Suche nach Ursachen dieser Schwäche auf böse Populisten oder Verschwörer im Bauch des Leviathans konzentriere.

„Das eigentliche Problem“ packe hingegen an, wer die Krise der Demokratie als Verfall ihrer „politischen Kultur“ begreife. In den USA sei dieses Problem mit dem Wechsel im Weißen Haus auch deshalb nicht gelöst, weil sich unter dem Präsidenten Joe Biden der nicht erst mit Donald Trump ausgebrochene „bürgerkriegsähnliche Kulturkampf“ sogar in verschärfter Form fortsetze. Wobei der Sachverhalt des „Kampfes um die politische Kultur der Demokratie“ am Beispiel der USA nur extrem kraß hervortrete, weil sich seit den 1980ern hinter der Republikanischen und der Demokratischen Partei Lager gebildet hätten, die sich heute im Wettbewerb um die Macht im Staat nicht mehr als Konkurrenten, sondern als Feinde gegenüberstünden. Damit sei das Fundament jeder funktionsfähigen Demokratie erodiert: ein minimaler, am Gemeinwohl jenseits der Pluralität der Weltanschauungen, Menschenbilder und Interessen bestehender, generell akzeptierter Wertekodex. Dazu zählen auch kulturelle Normen für den angemessenen Umgang in einer Ordnung wechselseitiger Anerkennung und Achtung, die Fähigkeit zum Kompromiß sowie die Bereitschaft, sich Mehrheitsentscheidungen zu fügen.

Da hochkomplexe westliche Industriegesellschaften sich durch eine  Vielheit materieller Ansprüche und ideeller Orientierungen, durch weltanschaulichen, kulturellen und politischen Pluralismus auszeichnen, hängt die Stabilität ihrer staatlichen Ordnung wesentlich davon ab, ob es ihnen gelingt, jenseits der anarchischen Interessenskonkurrenz ein System zu bewahren, das als solches, als repräsentative Demokratie und Rechtsstaat, überparteilich zustimmungsfähig bleibt. Sowohl in den USA wie in den westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften schwindet dafür die zur Funktionieren demokratischer Prozesse unentbehrliche ethnisch-kulturelle Homogenität. Nicht wenige Prognosen sehen daher für das 21. Jahrhundert einen durch den, aktuell eskalierenden, „Rassenkampf“ zwischen Schwarz und Weiß bedingten Zerfall der Vereinigten Staaten voraus. Hier vollzieht sich Prozeß der  Demokratiezerstörung, wie er auch in den westeuropäischen Mitgliedsstaaten der EU einschließlich Deutschlands aufgrund des von unverantwortlichen „Eliten“ forcierten Massenimports kulturell nicht integrierbarer Menschen aus archaisch geprägten Weltregionen bereits in Gang gesetzt worden ist.

Der Trend geht zu einem postdemokratischen System

Eine ethnische Gegensätze überbrückende sozioökonomische und politisch-kulturelle Homogenität als Fundament der Demokratie existiert für Schuppert in der zutiefst gespaltenen US-Gesellschaft „praktisch nicht mehr“. Wie konnte es dazu kommen? Auf diese Frage schweigt der Professor entweder vielsagend oder er flüchtet mit dem Hinweis ins Nebensächliche, „die Medien“ hätten – es bleibt unklar, warum – leider auf ihre, politische Konflikte entgiftende Filterfunktion seit langem verzichtet. Endlich meldet Schuppert als Analytiker sogar Bankrott an, indem er ein in den USA wie in Polen und Ungarn anscheinend endemisch verbreitetes „Virus der Polarisierung“ bemüht. 

Dabei lag es aufgrund seiner präzisen Zeitangabe, wonach diese Demokratiekrise in der Reagan-Ära begann, nahe, sie auf die damals forcierte Globalisierung der US-Billiglohnökonomie zu beziehen. Geht der Trend seitdem doch zur „marktkonformen Demokratie“ (Angela Merkel), zum postdemokratischen, durch Masseneinwanderung entstehenden multitribalen System, dem an politischer Willensbildung irgendeiner Mehrheit so wenig liegt wie am „mündigen Bürger“. Sozial- und rechtsstaatlich verfaßte Nationaldemokratien vom Typ Bonner Republik stehen der Großen Transformation nur noch im Wege.

Seine Weigerung, die Kausalität zwischen Globalisierung, Demokratieabbau und dem Rückfall in die verfassungshistorische Vormoderne zu diskutieren, hält Schuppert auf den letzten Seiten lobenswerterweise nicht durch. Die handeln exemplarisch vom Umbau der für die politische Kultur der USA einst konstitutiven New York Times. Und dabei waren weder „Populisten“ noch ein „Virus der Polarisierung“ am Werk, sondern allein „das Kapital“ höchstselbst, in Gestalt der Eigentümer und Geldgeber des Blattes. Seit der Finanzkrise 2008 erlebte die Zeitung sechs „Umstrukturierungsrunden“. Viele altgediente Kräfte, die einem klassischen Aufklärungsjournalismus verpflichtet gewesen seien, wurden seitdem abgefunden und durch willfährige Berufsanfänger ersetzt. Spätestens 2014 habe sich daher die politische Kultur des Blattes zugunsten einer militanten, vom Freund-Feind-Denken besessenen Identitätspolitik gewandelt: „Aus Liberalismus erwuchs eine illiberale Cancel-Culture, Diversität wurde zur Uniformität.“

 www.duncker-humblot.de

Foto: Museumsmitarbeiter betrachten anläßlich einer Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld das Gemälde „Die Erwartung“ (1935/36) von  Richard Oelze (Archivfoto 2007): Prozeß der Demokratiezerstörung