© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

In Merkels Trümmerfeld
Die CDU-Basis hat Friedrich Merz zum Parteichef gemacht: Kaum am Ziel, warten erhebliche Probleme auf ihn
Paul Rosen

Seine persönliche Scharte hat er ausgewetzt. Friedrich Merz ist nach dem Mitgliedervotum da, wo er seit seinem Sturz 2002 hinwollte: Er steht nun an der Spitze der CDU. Seine ewige Rivalin Angela Merkel, die ihn damals vom Fraktionsvorsitz im Bundestag verdrängte, hat sich in den Ruhestand zurückgezogen. Für den Finanzfachmann aus dem Sauerland scheint alles zu sein wie 1999, als die CDU nach der Niederlage von Helmut Kohl gegen Gerhard Schröder in einen komatösen Zustand versank, Merz die arbeitsfähigen Reste der Fraktion zusammenfaßte und mit seinen Angriffen schnell dem rot-grünen Gespann Gerhard Schröder und Joschka Fischer den Spaß am Regieren austrieb. So will er es wieder tun, wie die von ihm in Serie gegebenen Interviews zeigen. Doch zwei Jahrzehnte später ist die Lage eine andere: Nicht nur Merz ist älter geworden, die CDU und natürlich auch die CSU sind zu einem größeren Teil Rentnerorganisationen. Die Rezepte von damals wirken nicht mehr; bei jüngeren Wählern hat die CDU gerade noch den Rang einer Kleinpartei. Ob Merz mit diesen Truppen bei der nächsten planmäßigen Bundestagswahl 2025 die Ampelkoalition kippen kann, ist fraglich.

Die Bestandsaufnahme des neuen CDU-Vorsitzenden ist wenigstens ehrlich: „Die CDU ist denkfaul geworden. Das gilt für ihre inhaltliche Ausrichtung wie auch für ihre Präsenz bei den Themen und Menschen.“ Die CDU habe in einer ganzen Reihe von Themen keine befriedigenden Antworten gegeben und „alle Entscheidungen zu spät getroffen“. Doch die Themen allein machen es nicht. Es müssen auch Menschen das Parteiprogramm vertreten. Und da hat die CDU ein Problem (die SPD übrigens auch). 1990 hatte die CDU rund 800.000 Mitglieder, als Merz 1999 Fraktionschef wurde, waren es noch etwas über 600.000, heute sind es keine 400.000 mehr. Das Durchschnittsalter beträgt 60 Jahre; das typische CDU-Mitglied ist Mitte 60 und männlich. Wie Merz also. Ohne eine Invasion jüngerer Jahrgänge, wie sie die inzwischen 120.000 Mitglieder zählenden Grünen erlebt haben, ist die CDU in zehn Jahren die Partei der Seniorenstifte.

Schlimmer ist, daß die Fundamente der CDU teilweise eingestürzt sind. Die aus den Erfahrungen der NS-Zeit gegründete Union sollte die protestantischen und katholischen Christen zusammenfassen. Als Volkspartei band sie große Bereiche der Gesellschaft zusammen: Angefangen von der konservativ-nationalen Wählerschaft über wirtschaftsliberale Wähler besonders des Mittelstands bis zu Arbeitnehmern. Als Merz junger Abgeordneter war, saßen auf den Parteiversammlungen Arbeiter, Großbauern, Unternehmer und national gesinnte Kräfte einträchtig an einem Tisch. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

Inzwischen sind die Milieus der CDU ausgetrocknet, ja sogar ausgestorben. Der Gegensatz zwischen evangelischen und katholischen Christen ist Geschichte. Die Amtskirchen sind weitgehend am Ende, die Kirchen leer. Die Wirtschaftsliberalen sind heimatlos oder zur FDP übergelaufen. Das klassische Arbeitermilieu schrumpft; viele Arbeiter fühlen sich heute bei der AfD besser aufgehoben, wo die Konservativen bereits angekommen sind. Merkels Grenzöffnung 2015 und die Überflutung des Landes mit zwei Millionen Asylbewerbern haben dafür gesorgt, daß Konservative gewiß nicht mehr zur CDU zurückfinden – selbst wenn Merz wieder anfangen würde, die deutsche Leitkultur zu beschwören. Das nimmt man vielleicht noch ihm persönlich, aber nicht mehr der CDU als Partei ab, die von Merkel und ihren Satrapen in 16 Jahren völlig entkernt und in allen Positionen mit dem grünen Zeitgeist kompatibel gemacht worden ist.

Die Wahlergebnisse der Union in den letzten Jahrzehnten sprechen Bände. Stand sie in den 80er Jahren in Westdeutschland stets nahe der absoluten Mehrheit, so reduzierten sich die Ergebnisse in der Merkel-Ära auf bis zuletzt 32,9 Prozent. Statt mehr Profil zu zeigen und die thematische Verengung zu beenden, schielte die Union auf die Grünen als möglichen Bündnispartner, denen sie sich auch immer weiter annäherte. Das Ergebnis waren 2021 bittere 24,1 Prozent. 1,3 Millionen frühere Unionswähler liefen zur SPD über, die sichere Renten versprach, worauf die CDU keine Antwort fand. 1,3 Millionen Wähler wanderten zur FDP, weil CDU und CSU keine überzeugenden Antworten zur Wirtschaft und zu Staatsfinanzen hatten. Die Grünen holten sich auch eine Million Wähler aus dem Unionsmilieu. Und eine weitere Million früherer Unionswähler ist seit 2017 verstorben.

Merz steht in einem Trümmerfeld, und diesen Eindruck wird er auch mit eindrucksvollen Reden und Interviews nicht lange übertünchen können. Im Bundestag wird er punkten: Gegen den rhetorisch schwachen Bundeskanzler Olaf Scholz, dessen erste Regierungserklärung die Wirkung einer Schlaftablette hatte, ist Merz von vornherein der Gewinner. Immer. Aber ob Merz, der mit seiner Verbindung zur Hochfinanz (Blackrock) durchaus eine Achillesferse hat, gegen den Grünen Robert Habeck auch noch so gut dasteht, ist eine ganz andere Frage. Habeck verkörpert gerade für viele junge Menschen deren Lebensgefühl – von Klimaschutz, nachhaltigem Wirtschaften bis zur „Work-Life-Balance“. Dagegen wirkt Merz, als trage er seit dem 14. Lebensjahr Maßanzüge und prüfe jeden Abend die Entwicklung seiner Ölaktien.

Um etwas zu erreichen, muß Merz zunächst seine Position in der Partei festigen. Zweimal hat er vergeblich versucht, auf den von hauptamtlichen Funktionären und Abgeordneten dominierten Parteitagen Vorsitzender zu werden. Erst die Urwahl machte den Weg für ihn frei. Das heißt aber auch, daß er von den Funktionären nicht viel zu erwarten hat. Schlimmstenfalls lassen die ihn ins Leere laufen, so wie sie es 2002 an Unterstützung für den bayerischen Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber fehlen ließen und die Wahl verlorenging. Merz muß daher schnellstens den Fraktionsvorsitz im Bundestag übernehmen. Das ist das einzige Macht- und Kraftzentrum, das der Union verblieben ist. Der jetzige Vorsitzende Ralph Brinkhaus ist ohnehin überfordert.

Das größere Problem kommt noch: Merz muß sich von 16 Jahren Merkel-Regierung freischwimmen: Corona-Politik, Flüchtlingspolitik, die Erosion der Familie, Schuldenorgien in Berlin und Europa, die Aufweichung des Euro, die Vergrünung der Wirtschaft und damit die Erosion wichtiger Branchen wie der Autoindustrie. Will Merz erfolgreich sein, muß er sich von den eigenen Leuten und deren Politik absetzen. Ein Spagat. Vier Landtagswahlen im kommenden Jahr werden zeigen, ob Merz etwas verändern kann.