© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

„Jeder muß seinen Weg finden“
Trost und Erlösung: Birgit Kelle machte sich in einer Phase persönlicher Not auf den Jakobsweg. Nun hat sie mit „Camino“ ein Buch darüber veröffentlicht. Kaum erschienen, trifft die Publizistin erneut ein Unglück – sie erkrankt gefährlich an Corona
Moritz Schwarz

Frau Kelle, wie wird Weihnachten für Sie?

Birgit Kelle: Großartig und ruhig, weil ich nun sogar vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen worden und unendlich erleichtert bin. Während noch vergangene Woche nicht klar war, ob ich nicht gar auf die Intensivstation verlegt werden muß. 

Wie schlimm war Ihre Erkrankung?

Kelle: Sehr ernst! Obwohl ich nach meiner Corona-Infektion bereits das Gefühl hatte, ich sei auf dem Wege der Besserung. Das war ein Irrtum, und letztlich hat mich der Notarzt mit einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus gebracht. So etwas habe ich noch nie erlebt – eine so vollständige Entkräftung! Und dabei habe ich mich schon früher mal für „völlig erschöpft“ gehalten. Eine Woche lang balancierte ich auf Messers Schneide, stand oder „lag“ besser gesagt mit einem Bein schon in einem Intensivbett.

Waren Sie in Lebensgefahr? 

Kelle: So weit ist es dann zum Glück nicht gekommen. Aber es war auch so schlimm genug. Mit mir wurden zwei weitere Covid-Patienten eingeliefert: Eine Frau, kaum älter als ich, hat nicht überlebt. 

Hat das Ihre Sicht – Sie sind nicht geimpft – geändert?

Kelle: Nein, obwohl ich ehrlich gesagt Tage hatte, an denen es mir besonders schlecht ging und wo sich die Frage sehr aufdrängte, ob eine Impfung mich wohl vor diesem schweren Verlauf bewahrt hätte. Aber garantiert ist das in Wirklichkeit auch nicht: Keiner kann sagen, ob es mir geimpft besser gegangen wäre. So bleibt diese Frage eine Risikoab­wägung zwischen Nutzen und wenig erforschten Nebenwirkungen. Ich hatte mich dagegen entschieden, weil ich nicht zur Risikogruppe gehöre, mich gesund ernähre und mein Immunsystem durch Laufen und Eistauchen sogar im Winter trainiere. Ich hatte mich nicht gefährdet gefühlt, schwer zu erkranken – aber das war ein Irrtum. Statistisch mag ich vergleichsweise ungefährdet gewesen sein, faktisch war ich in sehr ernstem Zustand. Ich war nie eine klassische Impfgegnerin, ich halte es für Risikogruppen für eine sinnvolle Sache. Aber auch für eine, die jeder Mensch individuell, und zwar aus medizinischen Gründen, entscheiden muß. Auch für mich muß ich jetzt neu überlegen, weil meine Vorzeichen jetzt anders stehen. Das werde ich in ein paar Monaten aber in Ruhe mit meinem Arzt entscheiden und nicht in einem Interview. 

Derzeit stimmt Sie auch der Tod der Frau nicht um? 

Kelle: Natürlich geht es nahe, wenn nebenan ein Mensch stirbt. Ich hab es geschafft und sie nicht. Es hilft aber nicht, deswegen den Verstand auszuschalten. Ihr Tod entkräftet keines der obigen Argumente. Ich weiß nicht viel von ihr, ob sie geimpft, vorerkrankt, Risikogruppe war. Es gibt auch nach Impfungen schwere Erkrankungen, manche sterben. Der Tod im Nachbarzimmer ist kein objektives Argument für oder gegen eine Impfung. Jedesmal, wenn ich irgendwo höre, daß medial von einem kleinen Corona-„Piks“ die Rede ist, vor allem auch bei Kindern, bekomme ich Bluthochdruck! Wenn Menschen ums Leben kommen, sollte das beide Seiten der Debatte nachdenklich machen! 

Werden Sie sich nun künftig in öffentlichen Beiträgen kritischer mit Corona-Kritikern auseinandersetzen?

Kelle: Ich erlebe auf beiden Seiten zuviel Leichtfertigkeit und Absolutheit. Ja, es radikalisieren sich manche Impfgegner, aber ebenso Impfbefürworter. Die Debatte ist verhärtet. Ich erstaune über vernünftige Menschen auf beiden Seiten, die beim Thema Impfen plötzlich völlig aushaken. Ich werde weiterhin, wie schon vor meiner Erkrankung, dafür werben, auf die Fakten zu hören und jedem Menschen eine individuelle, freie Entscheidung zu ermöglichen.  

Ein Berliner Arzt appellierte unlängst in einem Coronakritiker-Podcast, sich vor Covid „nicht zu fürchten“. 

Kelle: Das halte ich nicht für richtig. Man sollte nicht in Panik verfallen, und das sind viele, aber ungefährlich ist Covid auch nicht. Ja, es gibt Infizierte, die merken nichts – andere aber sterben. Es ist wie Roulette.

Auf der anderen Seite stehen Virologen, Journalisten und Politiker, wie etwa Bundespräsident Steinmeier, der jüngst öffentlich sagte: „Jene, die sich nicht impfen lassen ... gefährden uns alle ... Was muß eigentlich noch geschehen, um Sie zu überzeugen?“

Kelle: Ich gefährde Herrn Steinmeier höchstens mit wahren Worten. Ich fürchte eher, daß viele, inklusive des Bundespräsidenten, nicht mehr realisieren, was sie reden. „Pandemie der Ungeimpften“ etwa ist für mich bereits das Unwort des Jahres. Eine gezielte verbale Eskalation, die die Bevölkerungsgruppen regelrecht und offenbar gewollt gegeneinander aufhetzt. Gegen alle Fakten schiebt man den Ungeimpften die Fortsetzung der Pandemie in die Schuhe und tut so, als seien sie schuld, wenn ein neuer Lockdown drohe. Auch die 2G-Maßnahmen drücken diesen ungeheuerlichen Vorwurf aus. Es ist absurd und verfassungswidrig, gesunde und frisch getestete Menschen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Am aufschlußreichsten und sinnvollsten wäre 1G: Getestet. 

Sie meinen, dahinter stecken massenpsychologische Effekte und Anführer, die auf die eigene Propaganda hereinfallen? 

Kelle: Jenseits des „Point of no Return“ existiert nur eine Einbahnstraße, anders kann ich es mir kaum erklären. Nun mündet es in eine Impfpflicht-Debatte, die ich übrigens schon im Frühjahr 2020 vorausgesagt habe. Damals wurde man wegen dieser Prognose noch als „Verschwörungstheoretiker“ beschimpft. Heute gilt man als irre, wenn man die Impfpflicht verweigert. Die Zeiten ändern sich offenbar.

Kommt die Impfpflicht? 

Kelle: Ich glaube nicht. Sie ist nämlich mit der derzeit geringen Wirkkraft der Impfstoffe rechtlich nicht begründbar. Bei dieser unzuverlässigen Schutzwirkung und der bleibenden Gefahr, weiterhin andere anzustecken, ist der vermeintliche gesellschaftliche Nutzen gegen das Individualrecht des Bürgers auf körperliche Unversehrtheit nicht aufzuwiegen. Deshalb auch die politische Flucht in die indirekte Impfpflicht: Ungeimpfte zu nötigen, indem man sie ausgrenzt und öffentlich anklagt. 

Dies war, wie Sie sagen, die erste schwere Erkrankung Ihres Lebens. Doch vor sechs Jahren hat Sie schon einmal ein schlimmes Ereignis aus der Bahn gebracht.  

Kelle: Ja, ich berichte davon in meinem neuen Buch „Camino“: Der Herzinfarkt meines Mannes katapultierte mich damals in die Lage, erstmals allein Verantwortung für alle tragen zu müssen: meine Kinder, meine betagte Schwiegermutter, mich selbst, meinen Job und meinen damals schwer kranken Mann. Diese Jahre waren eine völlige Überforderung. Mir dies selbst einzugestehen habe ich mir aber erst erlaubt, als das Schlimmste überstanden, die Kinder größer, mein Mann wieder gesund war. Ich war in dieser Zeit im besten Sinne genau jenes „Muttertier“, das ich in meinem gleichnamigen Buch beschrieben habe. Als ich aber alle „gerettet“ hatte, war eine dabei auf der Strecke geblieben – ich. Der Gedanke, den Jakobsweg zu gehen, war schon lange präsent gewesen, in dieser extremen Krise drängte er sich dann mit großer Wucht neu auf.

Aber war das nicht gerade das Gegenteil dessen, was Sie brauchten? Der Gefahr totaler Erschöpfung durch dreihundert Kilometer Gewaltmarsch entgegenzuwirken erscheint widersprüchlich. 

Kelle: Nicht körperliche Anstrengung, sondern große Verantwortung und Streß bringen uns zur völligen Erschöpfung. Die Anstrengung einer Pilgerfahrt ist groß, aber von gänzlich anderer Art. Es war eine ungeahnte Entspannung jeden Tag 25 Kilometer in einer Art stoischen Monotonie zu gehen. Nach Jahren höchster Anspannung und Verpflichtung war das einzige, was ich noch „mußte“ – morgens meine Habseligkeiten packen und losgehen. Diese Entschleunigung ist unbeschreiblich befreiend.

Schön und gut. Allerdings ist das doch nicht der Sinn einer Pilgerfahrt, oder? 

Kelle: Oh, Sie kennen den universalen Sinn dafür?  

Ist der Sinn nicht ein religiöser? 

Kelle: Ich glaube, es gibt so viele Gründe zu pilgern, wie es Pilger gibt. Es ist vor allem eines: Aufbrechen. Jeder der Gefährten, die mir auf dem Weg begegnet sind, hatte seinen eigenen Grund, hier zu sein.

Geht es nicht darum, einem Heiligen nahe zu sein, an seinem Grab, in seiner Aura zu beten – also um religiösen Dienst und Erfahrung?

Kelle: Ich fürchte, der Heilige Jakob ist den meisten völlig egal. Tatsächlich ist das Ziel die Kathedrale von Santiago de Compostela als Endpunkt der mühsamen Reise. Aber es sind ja nicht einmal alle Pilger Christen, geschweige denn Katholiken. Obwohl der „Camino“, wie er heißt, eigentlich ein klassisch-katholischer Weg ist.

Ist das nicht die Zweckentfremdung einer religiösen Handlung und Tradition zu postmodernem Nutzen? 

Kelle: Das klingt schon fast illegal. Sie hängen doch sehr an diesem Universalsinn. Aber es gibt keine Schablone, kein Pilgern nach Vorschrift. Jeder muß hier seinen eigenen Weg finden. Das ist vielleicht sogar das schwerste Ziel. Ich selbst mußte erst viele Tage gegen mich selbst rennen, um das zu begreifen. Anzukommen. Dieser Weg hat seine ganz eigene Atmosphäre. Überall finden sich Kreuze, Steinhaufen oder andere kleine „Kultstätten“, die über Jahrhunderte errichtet worden sind und zeigen, wie viele hier schon ihre Not und ihren Schmerz hindurchgetragen haben. Jeder von uns Pilgern trug sein „Päckchen“. Man muß hier keinem etwas erklären. Niemand belästigt einen mit der Frage, warum man unterwegs ist. Wir wußten alle, wie es ist. Das Schweigen darf hier auch seinen Raum haben. Entweder man erzählt von sich aus seine Gründe – oder nicht. Es ist ein stilles gemeinsames Verstehen, das über dem Camino liegt.

Sie schreiben, zu Hause habe jeder Sie gefragt, ob Ihnen Gott begegnet sei. 

Kelle: Ja, weil viele nicht verstehen, daß Pilgern keine All-inclusive-Reise „Einmal Gott und zurück“ ist. Ob man Gott begegnet, ist eine sehr individuelle Sache, dafür müßte man nicht auf den Camino gehen, aber manches wird dort einfacher. Das Hinüberwechseln aus unserem rastlosen, übervollen „Echtleben“ schafft Raum. Es macht offen, leer, empfänglich, wenn der Alltag abfällt. 

Wie war es schließlich, anzukommen? 

Kelle: Der schlimmste Tag von allen. Mir wurde klar, mein Weg ist zu Ende – und mein Echtleben stieg wieder vor mir auf, wie eine gewaltige Bedrohung! Es hatte geregnet, und dann war auch noch die Kathedrale geschlossen wegen Renovierung zum Heiligen Jahr. Ich hatte die volle Packung Frust. In dieser Stimmung suchte ich also die kleine Kirche, wo für ankommende Pilger eine Ersatzmesse gefeiert wurde – und das war sehr berührend. Ich fand meine Gefährten wieder, ein kleiner bunter Haufen aus fünf Nationen in einer Kirchenbank am zweiten Advent in einem spanischen Gottesdienst. Wir haben alle geheult wie Kinder und uns danach anständig betrunken. Eigentlich wollte keiner, den ich dort kennengelernt habe, jetzt nach Hause. Manche von ihnen sind wirklich dort geblieben, sie gehen immer noch durch Spanien. 

Für wen haben Sie das Buch eigentlich geschrieben, für Ihr bisheriges Publikum, das aber doch eines für politische Sachbücher ist, oder für ein anderes, ein neues? 

Kelle: Eigentlich waren das nur Tagebuchaufzeichnungen, die ich allein für mich aufgeschrieben habe. Daraus ein Buch zu machen war gar nicht geplant. Dann „mußte“ es aber geschrieben werden – wobei mir allerdings egal war, ob es ein Erfolg wird. Jetzt sind wir bereits nach wenigen Wochen in der zweiten Auflage, das freut mich dann doch. Ich bekomme viel persönliche, herzerwärmende Resonanz von Lesern – es scheint die Menschen zu berühren. Manche sind auch einfach neugierig, wer diese Publizistin Kelle eigentlich ist. Manche fragen mich, ob dies Buch die „andere Frau Kelle“ zeigt. Ich würde sagen, nein, es ist nicht die andere, ich war schon immer so. Aber es ist vielleicht das erste Mal die ganze Birgit Kelle. Wir sind alle nur Menschen. 






Birgit Kelle, „Rhetorisch brillant“ nennt sie die FAZ, eine Frau, „die sich traut, gegen den Strom zu schwimmen“, der Spiegel. Bekannt wurde die Journalistin durch ihre pointierten, zahlreichen Gastbeiträge, etwa in Bild, Welt, Focus etc. und Aufritte in fast allen deutschen TV-Talkshows sowie ihre Bucherfolge, wie „Dann mach doch die Bluse zu“ (2013), „Gender Gaga“ (2015), „Muttertier“ (2017) oder „Noch normal? Das läßt sich gendern!“ (2020). Nun ist ihr neuer Band erschienen: „Camino. Mit dem Herzen gehen“. Geboren wurde die Siebenbürger Sächsin, die seit 2011 auch für diese Zeitung schreibt, 1975 in Heltau bei Hermannstadt. 1984 kam sie nach Deutschland.

 www.vollekelle.de

Foto: Pilger auf dem Jakobsweg zum Wallfahrtsort Santiago de Compostela, der Grablege des heiligen Jakobus, in Spanien: „In dieser extremen Krise drängte sich mir der Gedanke, den ‘Camino’ zu gehen, mit Wucht neu auf“