© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Nul-nul-sjem muß sitzen
Diplomatische Krise: Nach dem Urteil im Tiergarten-Mord ist Eiszeit zwischen Berlin und Moskau
Peter Möller

Es klingt wie diplomatisches Pingpong, hat aber einen ernsten Hintergrund: Am Montag erklärte die russische Regierung zwei deutsche Diplomaten zu „unerwünschten Personen“ – so die verklausulierte Bezeichnung für die Ausweisung von Botschaftspersonal. Zudem wurde der deutsche Botschafter in Moskau einbestellt. Das Auswärtige Amt in Berlin wertete die Entscheidung Moskaus als erneute Belastung des deutsch-russischen Verhältnisses. „Dieser Schritt kommt nicht überraschend, ist aus Sicht der Bundesregierung jedoch vollkommen unbegründet“, hieß es in einer Mitteilung. Die Bundesregierung strebe einen Austausch mit Rußland auf Basis des Völkerrechts und des gegenseitigen Respekts an.

Am Werderschen Markt, dem Sitz des Auswärtigen Amtes, war solch eine Reaktion des Kremls seit Tagen erwartet worden, nachdem Berlin Mitte vergangener Woche zwei russische Diplomaten zu unerwünschten Personen erklärt hatte. Doch anders als Moskaus Retourkutsche hatte die Ausweisung der beiden Diplomaten aus Rußland einen triftigen Grund: Berlin reagierte damit auf das Urteil im sogenannten Tiergartenmord-Prozeß, in dem das Berliner Kammergericht am Mittwoch vergangener Woche einen 56 Jahre alten Russen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt hatte. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß der Mann am 23. August 2019 im Kleinen Tiergarten in Berlin den Georgier Selimchan Changoschwili erschossen hat – im Auftrag des Kreml. „Die Tat war durch in Berlin stationierte Helfer akribisch vorbereitet“, sagte der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi bei der Urteilsbegründung. „Das war und ist nichts anderes als Staatsterrorismus.“ Staatliche Stellen in Rußland hätten den Angeklagten angewiesen, das Opfer als Vergeltungsmaßnahme zu „liquidieren“. Mit dieser Sichtweise folgte das Gericht der Argumentation der Bundesanwaltschaft.

Bei dem Opfer handelt es sich um einen ethnischen Tschetschenen aus Georgien, der seit Ende 2016 als Asylbewerber in Deutschland lebte. Russische Behörden hatte ihn als Terroristen eingestuft und betrachteten ihn als Staatsfeind, weil er während des Zweiten Tschetschenienkriegs zwischen 2000 und 2004 als Kommandeur einer Einheit gegen Rußland gekämpft hatte. Die Bundesanwaltschaft sieht darin das Motiv für die Tötung. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte den Mann einen „Banditen“ und „Mörder“ genannt.

Wichtigster Zeuge in dem Prozeß war der aus Bulgarien stammende Journalist G., der nach eigenen Angaben als Chefrechercheur für das von dem britischen Blogger Eliot Higgins gegründete Investigativnetzwerk Bellingcat arbeitet. Das Netzwerk ist vor allem durch die Auswertung öffentlicher Quellen, insbesondere im Internet, bekannt geworden. Mit dieser Methode konnten die Rechercheure beispielsweise die Verantwortung der von Rußland unterstützten Separatisten im Osten der Ukraine für den Abschuß der Passagiermaschine MH17 mit 298 Menschen an Bord im Jahr 2014 nachweisen. Auch die Aufdeckung der Hintergründe der Vergiftung des früheren russischen Agenten Sergej Skripal und seiner Tochter in Großbritannien mit dem Nervengift Nowitschok durch den russischen Militärgeheimdienst GRU geht auf das Konto von Bellingcat. Daher halten nicht nur die Berliner Richter den Zeugen G. und das Recherchenetzwerk für äußerst gefährdet.

„Voreingenommene und politisch motivierte Entscheidung“

Gestützt auf die Recherchen von G. und Bellingcat handelt es sich nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft bei dem Angeklagten im Tiergartenprozeß um einen Offizier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, dem weitere Auftragsmorde im Ausland zugeordnet werden. Der Beschuldigte hatte dagegen zu Beginn des Prozesses über seine Anwälte Verbindungen zum russischen Staat und dem Geheimdienst FSB abgestritten und behauptet, er heiße Vadim Sokolow und nicht, wie vom Zeugen G. behauptet, Wadim Krassikow, sei 50 Jahre alt und Bauingenieur. Nach Überzeugung des Gerichts soll der Mann von den russischen Behörden mit falscher Identität nach Deutschland geschickt worden sein, um Changoschwili zu ermorden.

Im politischen Berlin sind der Mord und das Gerichtsverfahren mit größter Aufmerksamkeit verfolgt worden. Daß Rußland unweit des Berliner Regierungsviertels einen unliebsamen Menschen am hellichten Tage in aller Öffentlichkeit quasi hinrichten läßt, hatte allgemein für Entsetzen gesorgt. Entsprechend fielen nach dem Urteil die offiziellen Reaktionen aus. Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) sprach von einer „schwerwiegenden Verletzung deutschen Rechts und der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland“. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, der Richterspruch sei „eine klare Auskunft darüber, daß hier schlimme Dinge passiert sind, und deshalb ist es auch völlig richtig, daß die Außenministerin darauf mit einer klaren Antwort reagiert hat“. Der russische Botschafter Sergej Ne-tschajew kritisierte dagegen die Entscheidung des Gerichts deutlich. „Wir halten dieses Urteil für eine voreingenommene und politisch motivierte Entscheidung, welche die ohnehin schwierigen deutsch-russischen Beziehungen erheblich belastet“, hieß es in einer Erklärung.

Mit der gegenseitigen Ausweisung von Diplomaten dürfte das Kapitel Tiergartenmord längst noch nicht abgeschlossen sein. Experten gehen davon aus, daß die Tat die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau auf Jahre hinaus belasten wird. 

Foto: Prozeßbeteiligte im Gerichtssaal: Ein 56jähriger Russe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt; Polizisten führen Sokolow/Krassikow ab