© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Es brodelt in der Bevölkerung
Corona-Krise: Im ganzen Land gehen Bürger gegen Diskriminierung und anhaltende Einschränkung der Grundrechte auf die Straße
Christian Dorn / Filip Gašpar / Martina Meckelein / Christian Rudolf

Je mehr Menschen gegen Corona geimpft werden, desto mehr Menschen gehen gegen die staatlichen Maßnahmen in Deutschland auf die Straße – und das bundesweit. Allein am vergangenen Samstag kamen die Bürger in folgenden Städten zu Spaziergängen und Demonstrationen zusammen: 

Hamburg, Celle, Hannover, Magdeburg, Aichach, Ansbach, Aachen, Dinslaken, Düsseldorf, Bochum, Gelsenkirchen, Wuppertal, Osnabrück, Emden, Baden-Baden, Koblenz, Reutlingen, Bamberg, Frankfurt, Göppingen, Freiburg, Karlsruhe, Pforzheim, Köln, Rendsburg, Geilenkirchen, Flensburg, Neumarkt in der Ober­pfalz, Brandenburg, Schwerin, Landshut, München, Straubing, Deggendorf, Augsburg, Regensburg, Bad Kötzting, Schrobenhausen, Traunstein, Heilbronn, Überlingen, Northeim, Creuzburg, Wetzlar, Marburg, Trier, Chemnitz, Plauen, Meißen, Pirna, Cottbus, Potsdam, Hennigsdorf bei Berlin und zu zwei Kundgebungen in der Hauptstadt.

Bilder zeigen ein Transparent vor dem Bahnhof in Marburg, gehalten von Frauen und Kindern: „Wir sind die rote Linie“ – eine Anspielung auf die Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz, seine Politik kenne „keine roten Linien“ mehr. In Hamburg tragen Demonstranten ein Banner, auf dem steht: „Glaube wenig – prüfe alles – denke selbst!“

Die Menschen finden sich in der Hauptsache dezentral über Kanäle im Messengerdienst Telegram zusammen, wo sie voneinander erfahren. So wie 2020 beim Aufstand der Bürger gegen die Wahlfälschung in Weißrußland – für die Behörden schwer greifbar, weil von unten ohne zentrale Organisation, ohne führende Köpfe.

Dabei stellen die Bürger nur kritische Fragen. Solche, die sie von der Politik nicht beantwortet sehen. Die JUNGE FREIHEIT hat sie auf ihren Spaziergängen durch Hamburg und Berlin begleitet. Wanderungen durch ein gespaltenes Land.

Gretchenfrage: „Hilft denn nun die Impfung, oder tut sie es nicht?“

„Mit Stolz trug ich Schwarz-Rot-Gold auf meiner Uniform 1996 beim Ifor-Einsatz und sah meinen Dienst als Dienst für beide Heimatländer“, sagt Christian N. auf der Lombardsbrücke in Hamburg am Samstag gegenüber unserem JF-Reporter. Der Unternehmer ist Deutsch-Kroate und empört sich über die Politik im Land. „Wenn ich sehe, wohin sich Deutschland entwickelt, empfinde ich für diese Farben nur noch Scham! Einigkeit und Recht und Freiheit mußte sich Kroatien hart erkämpfen, hier treten es die Volksvertreter mit Füßen.“

In Hamburg ging eine fünfstellige Zahl von Bürgern auf die Straße. Die Angaben schwanken stark: Auf Telegram werden 30.000 Protestierer genannt, die Polizei will 11.500 gezählt haben.

Zum Hintergrund: „Our World in Data“ (OWID) ist eine Netzseite, die der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Oxford angegliedert ist. Für den 17. Dezember meldet sie folgende Zahlen für Impfungen gegen Sars-CoV-2: Einmal geimpft sind in Deutschland 60.888.551 Menschen (73,1 Prozent), zweimal geimpft sind 58.411.151 Millionen (70,2 Prozent), und eine Auffrischungsimpfung haben 25.171.551 Millionen Menschen (30,2 Prozent) erhalten. Doch diese Zahlen scheinen kein Grund, die Corona-Maßnahmen herunterzufahren. Im Gegenteil: Am Montag sickerte durch, daß die Bundesregierung verschärfte Kontaktbeschränkungen für Geimpfte und Geboosterte plant.

Die Empörung bei zigtausend Demonstranten, die jetzt in ganz Deutschland Woche für Woche auf die Straße gehen, wächst. Wie der Konsument öffentlich-rechtlicher Medien diese Demonstranten einzuordnen habe, gibt RBB-„Extremismusexperte“ Olaf Sundermeyer am 13. Dezember im Inforadio vor: „Wir erleben augenblicklich in der Provinz im Prinzip die Wiederkehr der Wutbürger, gemischt mit Rechtsextremisten, die ihre Kampagne aus dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise jetzt professionalisiert, intensiviert haben und sich dort zu einem Mob mit mehreren 100 Leuten völlig dezentral an unterschiedlichen Orten (...) zusammenfinden werden.“ Er hält die Organisatoren dieser Demonstrationen für den harten Kern von „Rechtsextremisten“. Die AfD spiele eine besondere Rolle, und Sundermeyer sieht eine wachsende Gewaltbereitschaft auf der Straße, spricht von „Blitzradikalisierung“.

Ohne Frage gibt es die Radikalisierung, doch sie blieb vornehmlich bislang ein sächsisches und thüringisches Phänomen. Am 3. Dezember zogen in Grimma etwa 30 Gegner der Corona-Politik mit Fackeln vor das Haus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD). Die Polizei ermittelt wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz und die Corona-Verordnung. In einem anderen Fall soll eine Chatgruppe bei Telegram bestehend aus mindestens fünf Männern und einer Frau wegen der Corona-Maßnahmen der Landesregierung den Mord an Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) geplant haben. Es kam zu sechs Hausdurchsuchungen wegen des Verdachts einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Waffen sollen sichergestellt worden sein. Das Landeskriminalamt prüft jetzt allerdings erst, ob sie „überhaupt als sogenannte scharfe Waffen gelten“, so die „Tagesschau“ der ARD.

Doch den meisten Demonstranten da draußen auf den Straßen geht es nicht um das Abstreiten einer Seuche, und es geht ihnen ganz sicher nicht um Gewalt. Sondern um den Umgang mit den Kritikern der Corona-Maßnahmen, die pauschal verunglimpft werden, um das, wie sie es empfinden, autoritäre Agieren der Politiker und in Gestalt der Impfpflicht um den geplanten Zugriff des Staates auf die Körper der Menschen.

„Ich will endlich wissen, warum während der Pandemie ganze Kliniken geschlossen werden“, sagt ein Demonstrant in Berlin am früheren Checkpoint Charlie auf der Kundgebung eines Coronamaßnahmen-kritischen „Autokorso Berlin“. „Betten werden abgebaut, Personal fehlt – angeblich. Nur warum ist das so? Wie kann das passieren?“ Eine Frau wirft ein: „Ich habe eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, das ist zwar zwanzig Jahre her, aber einen Pflegenotstand hatten wir damals schon. Mir soll keiner erklären, daß diese katastrophalen Verhältnisse auf den Intensivstationen erst durch die Corona-Pandemie entstanden sind.“ Eine Frau mit einem Fahrrad hört die Diskussion und stellt die Gretchenfrage: „Hilft denn nun die Impfung, oder tut sie es nicht?“ Eine Gruppe von Demonstranten am Brandenburger Tor, alle über 50, sagen der JF, für sie hätten die Diskriminierung durch die „2G“-Bestimmung und die drohende Impfpflicht das Faß zum Überlaufen gebracht.

„Das wäre das Ende der Versammlungsfreiheit“

Die eigenwillige Interpretation der Infektionszahlen mag eine Hamburger Spezialität sein (siehe Seite 2), das Verbieten von Demonstrationen ist eine Berliner Eigenart. Die Juristin Nicole Reese hatte gemeinsam mit der Schauspielerin Miriam Stein im Rahmen der Initiative #friedlichzusammen eine Demonstration geplant, die durchs Regierungsviertel führen sollte. 2.000 Teilnehmer hatte sie erwartet. Demonstriert werden sollte laut Initiatorin „für Freiheit, Verantwortung, Solidarität und eine individuelle Impfentscheidung“. 

Die selbstauferlegten Hygienemaßnahmen, gesundheitlich wie auch politisch, waren streng. Doch dann folgte das Verbot durch die Polizei. Die „schockierte“ Reese sagte laut Berliner Zeitung im Interview: „Gerade die Akzeptanz der Auflagen hat uns auf Social Media viel Zuspruch gebracht.“ Reese erklärte, daß die Begründung des Verbots, nämlich daß „Querdenker“ die Demo unterwandern würden und deshalb eine Durchführung nicht möglich sei und die Polizei sich nicht in der Lage fühle, die Demonstration zu schützen, das Demonstrationsrecht ins Leere laufen ließe. „Demnach könnte kein friedlicher Protest mehr stattfinden, sobald ein Dritter behauptet, diese Demo unterwandern zu wollen. Das wäre das Ende der Versammlungsfreiheit.“

Wie hart die Berliner Polizei gegen echte oder vermeintliche Maßnahmenkritiker vorgeht, erfuhr übrigens ein RBB-Reporter am 15. November. Seit Wochen treffen sich Demonstranten in kleinen Gruppen im gesamten Stadtgebiet, unter anderem vor der Gethsemanekirche im Stadtteil Prenzlauer Berg. Der Journalist war einige Minuten nach der Auflösung einer solchen kleinen Demonstration mit 350 Teilnehmern von mehreren Polizisten „verhaftet“ worden, so der Sender. Dabei sei er eben, so der öffentlich-rechtliche Sender lapidar, ein Passant gewesen, „der das Pech hatte, Opfer einer erklärungsbedürftigen polizeilichen Maßnahme zu werden – nicht mehr und nicht weniger“. Der Journalist hatte Beamte nur gefragt, warum sie denn vor der Kirche stünden.

Am vergangenen Montag demonstrierten knapp  hundert Menschen wieder vor der Gethsemanekirche. Diesmal allerdings gegen die Kritiker der Corona-Maßnahmen. Die Polizei schreitet nicht ein und verbietet auch nichts.

Fotos: Hamburg: Eindrucksvoller Massenspaziergang durch die Hamburger Innenstadt gegen die andauernde Suspendierung von Bürgerrechten; Kassel: Demokratisches Anliegen; Freiburg: „Für freie Impfentscheidung“; Hamburg: „Nur wir können es beenden!“; Düsseldorf: Viele trotz widrigen Wetters; Frankfurt: „Freiheit ist nicht erimpfbar!; Stuttgart: „Denkpflicht statt Impfpflicht“