© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Angezählt, aber nicht k.o.
Großbritannien: Der Brexit-Premier rauscht mit „Partygate“ in den Keller / Nachfolger laufen sich warm
Julian Schneider

Die Adventszeit war so furchtbar, daß hinter jedem Türchen eine neue Katastrophe lauerte, hat ein Tory-Abgeordneter die Erfahrung der britischen Regierungspartei dieses Jahr zusammengefaßt. Boris Johnson, der einstige Tausendsassa, hängt wie ein schwer angeschlagener Boxer in den Seilen, die Umfragen sind auf Talfahrt. 

„Es gab schon zwei Streiche, beim dritten ist er draußen“, sagte der langjährige Abgeordnete Roger Gale in der BBC nach einer Woche mit einer krachend verlorenen Nachwahl und einer Tory-Rebellion gegen neue Corona-Maßnahmen. Eine ganze Serie an Fehlern und Peinlichkeiten, „Sleaze“ (Filz) und vor allem die „Partygate“-Skandale haben Johnsons Regierung geschwächt. Der Premier ist angezählt, manche in Westminster halten ihn sogar für „tödlich verwundet“. Johnson ist zwar auch als politisches Stehaufmännchen bekannt. Diesmal könnte es allerdings schwer werden, noch mal die Kurve zu kriegen.

Fast täglich kamen neue Berichte über feuchtfröhliche Feiern in Downing Street und Ministerien vom Dezember 2020 an die Öffentlichkeit, als Treffen „normaler Bürger“ wegen Corona strikt verboten waren. Kurz vor Weihnachten schmückten Fotos die Zeitungen, die Johnson, seine Frau Carrie und Mitarbeiter im Lockdown im Mai 2020 gemütlich auf der Gartenterrasse der Downing Street 10 bei Wein und Käse zeigten. Johnsons Erklärung, es habe sich um ein Arbeitstreffen gehandelt, überzeugte wenige. „Partygate“ lastet wie ein Mühlstein auf der Glaubwürdigkeit seiner Regierung.

Angesichts der steil gestiegenen Omikron-Zahlen wird das Land höchstwahrscheinlich bald in einen Lockdown gehen, was besonders den rechten Tory-Flügel zur Verzweiflung treibt. Gegen die Einführung von Impfpässen bei großen Veranstaltungen gingen fast hundert Tory-Abgeordnete vergeblich auf die Barrikaden.

Schwer getroffen hat Johnson der Abgang des Brexit-Ministers Lord David Frost, der Mitte Dezember seinen Rücktritt einreichte. Der Diplomat Frost, ein langjähriger, stets loyaler Kampfgefährte, warf frustriert das Handtuch, weil ihm die ganze Richtung nicht mehr behagte. Nach dem Brexit sei es das Ziel gewesen, das Land von überflüssiger EU-Regulierung zu befreien, nicht das EU-Sozial-modell durch hohe Steuern und Sozialausgaben zu kopieren, kritisierte Frost via Spectator-Gastbeitrag.

Niederlage bei einer Nachwahl gibt den Konservativen zu denken 

In nationalen Umfragen liegen die Tories seit einigen Wochen klar hinter Labour unter dem zwar eher farblosen, aber seriös erscheinenden Oppositionsführer Keir Starmer. Die Niederlage der Tories bei der Nachwahl im westenglischen North Shropshire, dessen Sitz die Konservativen fast 200 Jahre mit einer winzigen Unterbrechung gehalten hatten, muß der Partei sehr zu denken geben.

Noch zeichnet sich kein Sturz Johnsons ab, die Parteigranden halten sich mit offener Kritik derzeit zurück. Aber einige sehen den Moment kommen, das die Abgeordneten in Westminster den Premier, der sie 2019 zu einem triumphalen Wahlsieg führte, inzwischen als Belastung empfinden. „Die Partei macht keine Gefangenen“, sagte der Abgeordnete Gale in der BBC. Tatsächlich ist das Verhältnis der Tory-Parlamentsmitglieder zu ihrer Parteiführung unsentimental. Theresa May wurde abgesägt, als es nicht mehr ging, selbst Margaret Thatcher wurde von der Partei vor die Tür gesetzt.

Schon laufen sich mögliche Nachfolger warm, allen voran Außenministerin Liz Truss. Die bekennende Thatcher-Anhängerin kommuniziert gerne mit Bildern. Jüngst verbreitete sie ein Foto von sich in einem Panzer im Baltikum, auf dem sie eine bekannte Pose der Eisernen Lady imitiere. Die 46jährige gilt  als aussichtsreichste Nachfolgekandidatin, noch vor Finanzminister Rishi Sunak, falls Abgeordnete eine  Leadership Challenge gegen Johnson wagen. Die ersten diesbezüglichen Briefe von unzufriedenen Hinterbänklern lagern schon beim „1922-Komitee“ der Partei, allerdings sollen es noch viel zu wenige sein, um den Prozeß zu seiner Abwahl zu starten.