© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Links feiert Sieg gegen „Ewiggestrige“
Chile: Nach seinem Wahlsieg will der Jungrevolutionär Gabriel Boric das Land umkrempeln
Jörg Sobolewski

Auf dem Pullover, den der junge Mann grinsend in die Luft hält, ist eine grauenhafte Szene abgebildet: der Kopf eines Mannes, die Augen im Tod gebrochen, auf seiner Stirn zwei Löcher, aus denen Blut über die Nase rinnt. Das Gesicht ist dasjenige von Jaime Guzmán, einem chilenischen Terroropfer der Neunziger. Der grinsende junge Mann hinter dem Pullover heißt Gabriel Boric. Der 35jährige war seinerzeit zwar erst wenige Jahre alt, aber er hat Berührungspunkte mit den politischen Gruppen, die an der Tat beteiligt waren, und, was wesentlich schwerer wiegt, Gabriel Boric ist der nächste Präsident Chiles. 

Mit über elf Prozent Vorsprung konnte der Kandidat des linksradikalen Bündnisses sich gegen seinen nationalkonservativen Gegner José Antonio Kast durchsetzen. Dabei war es just Kast gewesen, der Boric im Dezember 2018 mit dem Skandalfoto konfrontiert hatte. Erst nach einigen Tagen entschuldigte Boric sich für das Foto. Es sei „ein Fehler gewesen“. 

Trotz aller Verstrickungen in linksextreme Netzwerke aus seiner Zeit als „revolutionärer“ Student feiern auch Teile des linksliberalen Establishments seinen Sieg als „Sieg des Fortschritts“ über den „ewiggestrigen Pinochet-Sympathisanten“ Kast. „Wir  haben wirklich Angst“, betont dagegenMario Marchant, ein junger Pro-Kast-Aktivist aus dem chilenischen Süden. „Das wird hier wie Venezuela“, fürchtet er. 

Boric will viel verändern. Der Einkommensteuersatz, einer der niedrigsten der westlichen Hemisphäre, soll angehoben, Renten- und Krankenversicherung vollständig verstaatlicht werden. Illegale Migration soll legalisiert, die Polizei reformiert, privater Waffenbesitz erschwert und Gender Mainstreaming in die Schulbildung integriert werden. Was vor allem im Süden am schwersten wiegt: Boric will in der Unruheregion Araucanía den Ausnahmezustand beenden und eine „Kommission für Landreform“ einsetzen, um „die Landrechte Indigener“ zu stärken. 

Dabei hat besonders hier eine Mehrheit der Bürger, sowohl der Indigenen als auch der Nachfahren weißer Einwanderer, seinen Gegenkandidaten gewählt. Doch traditionell sieht sich die politische Linke in Chile als Anwältin radikaler Indigenengruppen und deren Forderung nach Enteignung und radikaler Änderung der Besitzverhältnisse in der Region. 

Ein Trostpflaster bleibt der Opposition allerdings: Zur Umsetzung seiner Vorhaben wird sich Boric mit einem Parlament auseinandersetzen müssen, in dem linksradikale Kräfte keine klare Mehrheit haben. Solange Boric nicht mit Hilfe von Notverordnungen regiert, wird er um Kompromisse nicht herumkommen.