© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Illusionen im Freizeitpark Deutschland
Energiepolitik: Zum Jahresende gehen drei weitere AKW vom Netz / Können Erdgas- und Stromimporte die Lücke füllen?
Marc Schmidt

Am 20. Dezember jährte sich zum 70. Mal die Inbetriebnahme des ersten Atomkraftwerks der Welt: In der Gemeinde Arco im Butte County des US-Bundesstaats Idaho erleuchten vier 200-Watt-Glühlampen durch die Kraft der Urankernspaltung. Der kleine Experimental Breeder Reactor (EBR-I) erbrachte im Normalbetrieb zwar nur 0,2 Megawatt (MW) elektrische und 1,4 MW thermische Leistung, doch er war noch bis Anfang 1964 im Einsatz. Die Anlage, heute ein Museum, wurde 1965 zum Nationalen Wahrzeichen (NHL) und 2004 zum „Meilenstein“ des Weltberufsverbands der Ingenieure (IEEE) erklärt.

Die US-Brütertechnologie wurde in Deutschland weiterentwickelt, doch das 1985 fertiggestellte AKW Kalkar mit geplanten 1.500 MW Leistung ging nie Betrieb – die SPD-Landesregierung verweigerte der Milliardeninvestition am Niederrhein die Betriebsgenehmigung. Ob wirklich nur die Anti-AKW-Bewegung oder auch die Sorge um die regionalen Braun- und Steinkohlenkraftwerke bei der Entscheidung ein Rolle spielten, ist unklar. Die Grünen schafften erst 1990 mit 5,1 Prozent den Sprung in den Landtag. Auf dem Gelände lädt seit 2005 das „Wunderland Kalkar“ groß und klein zu diversen Freizeitaktivitäten ein.

Die herkömmlichen Druck- und Siedewasserreaktoren erhielten hingegen damals noch eine Gnadenfrist. Zunächst wurde 1990 das AKW Greifswald (2.200 MW) nach nur 16 Betriebsjahren abgeschaltet – die Nachrüstung der Sowjettechnik auf westeuropäisches Niveau wurde politisch verhindert. Erst zwölf Jahre später ging es auch den 19 westdeutschen AKW an den Kragen: Das rot-grüne Schröder-Kabinett drückte das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung durch. Die 2010 beschlossene Laufzeitverlängerung bis in die 2030er Jahre hatte keinen Bestand: Das Tōhoku-Erdbeben vom 11. März 2011, der folgende Tsunami, der über 22.000 Japaner das Leben kostete und im AKW Fukushima I eine Nuklearkatastrophe auslöste, wurde von der schwarz-gelben Merkel-Regierung zum Anlaß genommen, den beschleunigten Atomausstieg einzuleiten.

Während das japanische Atommoratorium nur bis 2015 anhielt, wurden in Deutschland 2011 eiligst 8.422 MW Kernkraft (etwa sieben Prozent der damaligen Stromerzeugung) endgültig vom Netz genommen. Die verbliebenen 12.068 MW gehen seit 2016 schrittweise vom Netz. Zum Jahresende kommt der nächste große Schritt: Mit den AKW Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C werden zum Jahresende weitere 4.058 MW endgültig abgeschaltet. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung habe dies aber „keine nennenswerten Auswirkungen auf die Stromkapazitäten“ (DIW Wochenbericht 47/21). Selbst nach dem Abschalten der drei letzten deutschen AKW (Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2; zusammen 4.049 MW) seien auch 2023 „ausreichende Kapazitäten aus fossilen und erneuerbaren Energien vorhanden“, um die Jahreshöchstlast von knapp 80.000 MW zu bedienen, beruhigt das DIW.

Milliardenteure Mahnmale politischer Fehlentscheidungen

Daß dies „zu einem Anstieg der CO2-Emissionen in Deutschland um ungefähr 40 Millionen Tonnen“ führt, mag nur Klimapaniker der Ampel erzürnen. Doch mit den vom DIW einberechneten Stromimporten könnte es schon im Januar 2022 eng werden: Bis mindestens Februar ist das AKW Chooz (3.000 MW) der Électricité de France (EDF) aus Wartungsgründen vom Netz. Das EDF-AKW Civaux (2.990 MW) ist sogar bis April außer Betrieb. Die Bundesnetzagentur und der Netzbetreiber Amprion rechnen aktuell zwar nicht mit Stromengpässen oder gar einem Blackout. Käme es aber zu einem strengen Winter wie 1978/79 und zu witterungsbedingten Ausfällen bei deutschen, polnischen und tschechischen Braunkohlekraftwerken, wären zumindest regionale Stromabschaltungen unausweichlich. Denn auf den Energiebörsen läßt sich auch zu Höchstpreisen nur der Strom einkaufen, der auch wirklich physisch erzeugt wird.

Eine künftige Alternative benennt der Koalitionsvertrag der Ampelregierung: „Die Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken.“ Doch wer die Preisexplosionen am Gasmarkt verfolgt, weiß, daß dies teuer wird. Viele Gaskraftwerke sind noch im Planungsstadium. Erdgas ist zudem auch die wichtigste Wärmequelle der deutschen Haushalte. Und die Ampel will „keine neuen Genehmigungen für Öl- und Gasbohrungen jenseits der erteilten Rahmenbetriebserlaubnisse für die deutsche Nord- und Ostsee erteilen“.

Große Flüssiggas-Terminals (LNG) für Importe aus Amerika oder der Golfregion wurden nicht gebaut. Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist geopolitisch umstritten. Die erschlossenen niederländischen Gasfelder gehen zur Neige. Wo soll also das laut Koalitionsvertrag „unverzichtbare“ Erdgas herkommen? Trotz allem wird die Abschaltung bestehender, voll abgeschriebener und technisch einwandfreier AKW in Deutschland, Dänemark, Österreich oder Luxemburg medial und politisch als Erfolg gefeiert – nur die AfD und einige Politrentner anderer Parteien widersprechen. Auf EU-Ebene sieht es hingegen anders aus (JF 49/21). Der Streit ging beim jüngsten EU-Gipfel nur darum, wie und in welchem Umfang Atom- und Gaskraftwerke künftig als „klimafreundlich“ gefördert werden. Eine Entscheidung fiel noch nicht. Daß sich die Bundesregierung „für eine Abschaltung der grenznahen Risikoreaktoren einsetzen“ will, dürfte in Den Haag, Paris oder Prag keine Panik auslösen.

Nachdenklich machen Zahlen des Statistischen Bundesamts: Im dritten Quartal 2021 stammte der in Deutschland erzeugte Strom zu 56,9 Prozent von „klimaschädlichen“ Energieträgern: 31,9 Prozent Kohle, 14,2 Prozent Atom, 8,7 Prozent Erdgas und 2,1 Prozent Öl, Müll und Sonstiges. Die unsteten „Erneuerbaren“ Wind und Sonne kamen nur auf 16,6 bzw. 13,3 Prozent. Die zuverlässigen „grünen“ Stromquellen (Biogas, Wasserkraft, Geothermie) addierten sich auf lediglich 13,2 Prozent.

Idaho National Laboratory:  inl.gov

Foto: Kühltürme des AKW Gundremmingen C im bayerischen Schwaben:  Keine nennenswerten Auswirkungen auf die Stromkapazitäten?