© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

„Es klemmt an fast jeder Ecke“
Mangelwirtschaft: Lieferengpässe und Corona-Welle bremsen vor allem deutsche Firmen aus / Umdenken bei der früher verpönten Lagerhaltung
Paul Leonhard

Im Industrieland Deutschland fehlt es an elektronischen Bauteilen, Baumaterialien, Metallen, Chemikalien und selbst an Papier. Maschinen und Autofabriken stehen still. Kupfer, Aluminium und Holz sind knapp und damit wie so vieles inzwischen sehr teuer. Werkstätten klagen über fehlende Ersatzteile. Selbst Corona-Schnelltests sind Mangelware. Frühere Direktoren von „volkseigenen Betrieben“ (VEB) in der einstigen DDR oder dem Ostblock dürften sich erstaunt die Augen reiben, ehemalige Dozenten für sozialistische Betriebswirtschaft zufrieden die Hände reiben: Bricht nach dem Realsozialismus auch die globalisierte Marktwirtschaft zusammen?

Die deutsche Wirtschaft stöhnt nicht nur unter harten Auflagen, die die Bundestagsmehrheit ihr zwecks Covid-19-Eindämmung und Weltklimarettung auferlegt hat, sondern auch über Produktionsprobleme, die bezüglich Ausmaß und Dauer in der Nachkriegsgeschichte einzigartig sind. Überraschend für die Konjunkturforscher ist die Dauer der Lieferengpässe und Materialknappheiten, auch wenn deren Ursachen längst gründlich analysiert wurden: die zeitweise Schließung von Häfen, die sechstägige Sperrung des Suezkanals im März wegen einer Schiffshavarie und direkte Produktionsausfälle, ob durch die Pandemie oder den Brand von Halbleiterfabriken in Asien, bei zeitgleichem deutlichen Nachfrageanstieg für Halbleiter durch eine wiederum coronabedingte Mehrnachfrage etwa nach Laptops und einen technologisch bedingten Mehrbedarf für Elektroautos (JF 41/21).

Statt daß sich dieser Rückstau auflöst, nimmt er offenbar zu. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) hat seine Jahresprognose 2021 bereits von einem Zuwachs von zehn auf sieben Prozent gesenkt. Von den Verbandsmitgliedern meldeten 37 Prozent „gravierende“ und 47 Prozent „merkliche“ Engpässe vor allem bei Vorprodukten wie Elektronikkomponenten und Metallerzeugnissen, aber auch Kunststoffen, Gummi und Chemikalien.

„Der Anteil der Unternehmen, der Materialmangel als produktionshemmend wahrnimmt, ist gestiegen“, heißt es im IW-Kurzbericht (91/21) des Instituts der deutschen Wirtschaft zu anhaltenden Produktionsausfällen. Beim VDMA rechnen 38 Prozent der rund 500 befragten Unternehmen für die kommenden Monate mit noch zunehmenden Beeinträchtigungen, weitere 57 Prozent mit einer unverändert angespannten Lage. Frühestens im zweiten oder sogar dritten Quartal 2022 entschärfe sich diese, so VDMA-Präsident Karl Haeusgen gegenüber der Welt.

„Anpassungen in Produktionsabläufen, eine Entschärfung der Pandemielage und preisliche Allokationsmechanismen sollten den Nachfrageüberhang über den Prognosezeitraum jedoch entschärfen“, hoffen auch die IW-Forscher und verweisen darauf, daß die Unternehmensstimmung mehrheitlich optimistisch sei. Somit dürften die teilweise sehr hohen Auftragsbestände zu einer Beschleunigung der Investitionsdynamik führen. Das sah vor einem knappen Monat noch ganz anders aus. Da konstatierte das Ifo-Institut, daß die vierte Coronawelle und die Lieferengpässe den „Pessimismus der Firmen“ schüren und diese „mutlos“ würden.

„Der große Joker ist die Industrieproduktion“

Derzeit berichten drei Viertel der Unternehmen von Produktionsausfällen von im Durchschnitt sieben Prozent. „Es klemmt an fast jeder Ecke“, sagt Wolfgang Weber, Vorsitzender der Geschäftsführung des Zentralverbands der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI): „Die Unternehmen könnten deutlich mehr produzieren, wenn die gravierenden Versorgungsengpässe nicht drücken würden.“ Selbst für 2023 rechne noch knapp die Hälfte der privatwirtschaftlichen Unternehmen mit Ausfällen. Von den im Rahmen der IW-Konjunkturumfage im Herbst angeschriebenen mehr als 2.800 Unternehmen gab gut ein Viertel an, im vierten Quartal dieses Jahres mit großen Problemen zu kämpfen. 17 Prozent aller befragten Firmen schätzten ihre Produktionsausfälle auf bis zu 20 Prozent und sechs Prozent auf über 20 Prozent. Gut ein Prozent der Betriebe produziert demnach derzeit weniger als die Hälfte seines Normaloutputs.

Ein düsteres Bild malt auch die Ifo-Konjunkturprognose für den Winter: Lieferengpässe und die Pandemie würden die deutsche Wirtschaft ausbremsen. Die Konjunkturforscher machen neben der erneuten Corona-Welle vor allem Produktionsschwierigkeiten im verarbeitenden Gewerbe aus. Trotzdem werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 2,5 Prozent und in den kommenden beiden Jahren um 3,7 bzw. 2,9 Prozent zulegen. Das Ifo-Institut geht gar von 4,3 Prozent bzw. 3,2 Prozent aus. Zögerlich zeigen sich Unternehmer bei Investitionen. Erst für das kommende Jahr wird hier ein Wachstum von 3,9 Prozent, bei privaten Ausrüstungsinvestitionen von 5,3 Prozent und bei gewerblichen Bauinvestitionen von 1,6 Prozent erwartet. Da aufgeschobene Investitionsvorhaben nachgeholt werden müssen, rechnen die Wissenschaftler für 2023 mit einer Steigerung der Unternehmensinvestitionen um 4,6 Prozent.

Allem Optimismus zum Trotz stockt die Halbleiterproduktion in Asien noch immer. Experten schätzen, daß sich die Lage bei den Computerchips erst ab Mitte 2022 entspannen könnte. „Die Lieferengpässe belasten kein Land in Europa so stark wie Deutschland, wegen des hohen Industrieanteils und wahrscheinlich auch wegen des hohen Anteils der Automobilindustrie“, zitiert die „Tagesschau“ Chefvolkswirt Carsten Brzeski von der ING Deutschland. „Der große Joker ist die Industrieproduktion, die jetzt mit einer kurzen Wiederbelebung eventuell noch die Rezession verhindern könnte.“

Bei vielen Unternehmen hat ein Umdenken bezüglich Lagerhaltung eingesetzt. 57 Prozent von knapp 3.000 durch die DIHK Befragten wollen hier ihre Kapazitäten erhöhen. Auch eine Erfahrung aus der aktuellen Krise: Zwei Drittel der Unternehmen suchen neue oder zusätzliche Lieferanten für die von ihnen benötigten Materialien, 17 Prozent wollen den Einsatz alternativer oder recycelter Materialien vergrößern. Jedes zwölfte Unternehmen will aufgrund der Lieferschwierigkeiten zumindest Teile seiner Produktion an neue Standorte verlagern.

Keine Lieferengpässe hat die pyrotechnische Industrie in Deutschland. Doch das zweite Verkaufsverbot für Silvesterfeuerwerk geht nun an die Existenz. 350 Beschäftigte allein beim Marktführer Weco bangen nun um ihre Existenz. Der Branchenverband BVPK klagt gegen die Verkaufs- und Abbrennverbote – doch die Aussichten sind düster.

„Anhaltende Produktionsausfälle durch fehlende Vorleistungen“ (IW Kurzbericht 91/21):  www.iwkoeln.de/studien